Gelsenkirchen-Buer. Thommy Wesselborg hat in 36 Jahren hinter den „Destille“-Tresen legendäre Abende erlebt. Nun gibt er die Kneipe ab. Das sind die Zukunftspläne.

  • Thomas „Thommy“ Wesselborg stand 36 Jahren hinter den Tresen der „Destille“. Nun gibt er die Kultkneipe am Rande von Buer ab.
  • Im WAZ-Gespräch erzählt er seine schönsten Anekdoten der letzten 36 Jahre – von tangotanzenden Argentiniern und enttäuschten Engländern. Highlights: Die EM 1988 und die WM 2006.
  • Der neue Besitzer Bahri Ay will den „Wohnzimmer-Charakter“ der Kneipe beibehalten.

Beichtvater, Ehevermittler und königsblauer Geheimnisträger: Thomas Wesselborg ist viel mehr als der erste Mann hinter dem Tresen der „Destille“. Nun übergibt „Thommy“ seine Kultkneipe am Rande von Buer an Bahri Ay, um als Angestellter in Teilzeit weiter am Zapfhahn zu stehen. Er will in Etappen Abschied nehmen von seinem „Wohnzimmer“, das er in den vergangenen 36 Jahren zu einer Institution gemacht hat – und die nicht nur so manchem Engländer unvergesslich geblieben sein dürfte.

„Es ist einfach an der Zeit, die nächste Tür zu öffnen und etwas ruhiger zu treten“, begründet der 58-Jährige aus Beckhausen („Buer 2“) die Entscheidung, sein „Baby“ in andere Hände zu übergeben. „Die ,Destille’ ist jetzt zweimal volljährig geworden, da muss ich langsam loslassen. Mit Bahri habe ich zum Glück jemanden gefunden, der genauso leidenschaftlich Gastronom ist wie ich. Da fällt es leichter, die Verantwortung abzugeben.“

Thommy Wesselborg übernahm die „Destille“ als 21-jähriger Geografie-Student

„Destille“-Gastronom Thommy Wesselborg (r.) wird nach der Übergabe der Kultkneipe an Bahri Ay mit reduzierter Stundenzahl als Angestellter weiter vor Ort sein.
„Destille“-Gastronom Thommy Wesselborg (r.) wird nach der Übergabe der Kultkneipe an Bahri Ay mit reduzierter Stundenzahl als Angestellter weiter vor Ort sein. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Dass er die „Dille“, wie die Kneipe an der Kurt-Schumacher-Straße 317 von ihren Stammgästen gerne genannt wird, am Ende 36 Jahre erfolgreich durch alle Krisen steuern würde: Darüber scheint Wesselborg selbst am meisten erstaunt. „Als ich die ,Dille’ als 21-jähriger Geografie-Student übernahm, hab ich gedacht: Probierst du das mal für ein Jahr oder so. Ich war ja gerne in Kneipen unterwegs, nun hatte ich meine eigene“, erzählt er und lacht.

Während sein Vater den Studienabbruch und die berufliche Entwicklung seines Sohnes mit Sorge verfolgte („es hieß ja schon damals immer: ,Wer nichts wird, wird Wirt’“), ging Wesselborg in seinem Job als Gastronom auf. Er entdeckte immer mehr: Dienstleistung war genau sein Ding!

Gelsenkirchener musste sich und sein Lokal immer wieder neu erfinden

„Ich hab schon immer gerne mit Leuten gequatscht, aber so eine Kneipe zu führen, ist doch komplexer: Man muss ja überall seine Augen haben und erkennen, wo gerade Nachschub nötig ist. Außerdem muss man sich immer wieder neu erfinden und den Leuten einen neuen Grund liefern, hier seine Freizeit zu verbringen“, berichtet er.

Rund 30 Paare fanden in der „Destille“ zueinander

Fußballspiele sehen, Live-Musik hören, knobeln, kniffeln, Karten spielen und in netter Gesellschaft ein Bier trinken: Für viele Stammgäste hat die „Destille“ den Charakter eines Wohnzimmers mit ihrem urigen Holz-Ambiente und den vielen goldgerahmten Fotos von unvergesslichen Momenten aus der Schalker Fußballgeschichte.Für viele Besucherinnen und Besucher entpuppte sich die Kultkneipe aber auch als Eheanbahnungs-Institut: Etwa 25 bis 30 Paare, so schätzt Gastronom Thommy Wesselborg, fanden sich im Laufe der vergangenen 36 Jahre in der „Destille“. Mittlerweile zählen schon deren (erwachsene) Kinder zu den Gästen.

So organisierte er neben Live-Übertragungen von Fußballspielen die schon fast legendären Kneipen-Fußballturniere und Live-Konzerte, hauptsächlich mit lokalen Bands, aber auch überregionale Musiker waren bei ihm zu Gast, etwa die Berliner Rock-Formation Arsen oder die Hardrocker Four Wheels Drive aus Würzburg („da wackelten die Wände“). Und er ließ sich auch von umsatzschwächeren Jahren („da musste ich mir auch mal Geld von meinem Vater leihen“) und Vorgaben wie dem Nichtraucherschutz nicht unterkriegen: „Da haben wir einfach die Speisekarte erweitert.“

Bei der WM 2006 kamen Argentinier tangotanzend aus den Büschen und wollten essen

Die Highlights freilich, sie waren König Fußball geschuldet, „als die ganze Welt zu Gast in Gelsenkirchen war“: „Die EM 1988 und die WM 2006 waren herausragend, einfach großartig“, schwärmt er. Er erinnert sich noch gut, wie die Argentinier 2006 „um 23 Uhr tangotanzend aus den Büschen kamen und so viel Hunger hatten, dass ich so spät noch mal den Grill angeworfen habe.“

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Oder wie acht Engländer in der Einliegerwohnung nebenan übernachteten – und in der „Dille“ fast schon wohnten. „Die wollten jeden Abend Cider haben.“ Einer der Briten schenkte ihm am Ende, totenttäuscht vom Ausscheiden seiner Mannschaft beim Elfmeterschießen, eine Karte fürs Bob-Dylan-Konzert im Amphitheater, die er zuvor voller Optimismus gekauft hatte.

Königsblaue Vereins-Geheimnisse sind bei Wesselborg gut aufgehoben

„Das war mein einziger freier Abend während der WM. Sonst habe ich 20 Stunden durchgearbeitet, vier Wochen lang, weil wir so viel zu tun hatten. An manchen Abenden hatten wir 200 Gäste, sogar aus Hawaii“, erzählt er.

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Ausgelassene Partystimmung gab’s natürlich auch sonst oft bei Heimspielsiegen der Schalker, deren Vereinsakteure auch immer wieder mal in der „Destille“ vorbeikamen und mit „Thommy“ anstießen. Es versteht sich von selbst, dass sie da auch mal Neuigkeiten ausplauderten – die waren und sind freilich bei Wesselborg gut aufgehoben. „Wir Wirte unterliegen da doch der Schweigepflicht“, sagt er augenzwinkernd.

Neuer Betreiber Bahri Ay will Kultkneipe mit der gleichen Leidenschaft fortführen

Mit dem Abstieg Schalkes in die zweite Liga hadert er genauso wie die Fans. Die Corona-Pandemie macht Wesselborg ebenfalls zu schaffen, auch wenn er sich mit seinem Außer-Haus-Verkauf („Büdchen“) ein zweites Standbein aufbaute. „Aber das Potenzial ist nach wie vor da, das haben wir im Sommer gemerkt. Den Leuten dürstet es danach, rauszugehen und sich zu treffen.“

Davon ist auch Bahri Ay (52) aus Buer überzeugt, der die „Destille“ nun übernommen hat. Der Volkswirt und Koch mit türkischstämmigen Wurzeln betreibt bereits in Bochum den „Ratskeller“ und will die urige Kneipe „mit dem gewissen Etwas“, wie er sagt, so fortführen, wie Wesselborg es in den vergangenen Jahrzehnten getan hat: „Mit dem gleichen Team und viel Leidenschaft!“

Auch künftig sollen die Gäste „einfach reinkommen und sich wohlfühlen“. Lediglich die Speisekarte will er um einige internationale Gerichte erweitern und vielleicht noch einige Schönheitsreparaturen vornehmen. „Sonst soll die ,Destille’ bleiben, was sie ist: ein Wohnzimmer – nicht nur, aber auch für alle Schalke-Fans!“