Gelsenkirchen. Nach dem Corona-Lockdown hat der Sozialdienst Schule in Gelsenkirchen besonders viel zu tun. Wie er Schulverweigerer auffängt und motiviert.

Tom (14) hat sich nach dem Corona-Lockdown wochenlang nicht in der Schule blicken lassen. Als der Lehrer die Eltern in die Schule einlädt, um mit ihnen über die ausufernden Fehlzeiten ihres Sohnes zu sprechen, fallen sie aus allen Wolken: „Aber er geht doch jeden Morgen aus dem Haus!“ Es stellt sich heraus: Er geht aus dem Haus, aber nicht in die Schule. Bei dem Gespräch ist neben dem Klassenlehrer und dem Schulsozialarbeiter auch ein Mitarbeiter des Gelsenkirchener Sozialdienstes Schule (SDS) dabei, der außerhalb der Schule arbeitet. Daniel Schlüter ist einer dieser Sozialarbeiter. Er hört erst einmal zu und versucht dann, gemeinsam mit den Eltern jenseits der Schule die Gründe zu ermitteln und beseitigen, die Jugendliche vom Schulbesuch abhalten.

Zuerst gilt es, Vertrauen aufzubauen

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Bei den ersten Gesprächen im Elternhaus geht es darum, Vertrauen aufzubauen, zu sehen, wie die Tagesstrukturen, wie die aktuelle Familiensituation ist. Tom hat drei Geschwister, teilt sich ein Zimmer mit seinem großen Bruder. Auch der geht nur unregelmäßig zur Schule, macht die Nächte an der Playstation durch, was Tom vom schlafen abhält. Die Eltern sind arbeitslos, ihr Alltag hat wenig Struktur. Hier setzt der Sozialarbeiter an. Versucht, Strukturen aufzubauen und Regeln, zum Beispiel für Medienkonsum. Aber es geht nicht nur um Einschränkungen: Auch Motivation zu Schul- und Freizeitaktivitäten stehen im Mittelpunkt.

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Tom gibt es so nicht. Er ist nur ein fiktives Beispiel, zusammengesetzt aus verschiedenen realen Fällen, die einander aber oft frappierend ähneln. Unter den rund 200 Jugendlichen, die der Sozialdienst Schule neben den Grundschulkindern in Gelsenkirchen betreut, stammen viele aus Familien, deren Eltern schon in der zweiten Generation von Hartz IV leben. Eltern klar zu machen, wie wichtig Vorbildfunktion und Motivation sind, dass es einen Weg aus dieser Situation für ihre Kinder gibt, ist eine der wesentlichen Aufgaben des SDS-Teams. Es geht um Selbstvertrauen und das Gefühl „ich kann das schaffen“, das ankämpfen gegen die Opferrolle. Manchmal ist es aber auch einfach: Wenn es nur darum geht, jemanden zu finden, der die Kinder weckt, wenn die Eltern frühmorgens schon bei der Arbeit sind und dies nicht übernehmen können.

Ventile für Frust im „echten“ Leben wiederentdecken

In den Herbstferien hat Daniel Schlüter mit 20 Heranwachsenden aus „seinen“ Schulen ein Projekt gemacht, das beim Wiederentdecken der Außenkontakte und -aktivitäten geht. „Im Lockdown haben viele nur noch gezockt und über Medien kommuniziert. Und auch als wieder mehr ging, haben viele sich nicht getraut, ins echte Leben zurückzukehren“, hat Schlüter gemerkt.

Sozialdienst rechnet mit weiterer Zunahme bis Weihnachten

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Und so hat er mit der Gruppe im Kiezschuppen in Ückendorf Graffiti, Kickboxen und Fußball angetestet, „damit sie merken, was ihnen Spaß macht und wie gut das Miteinander tut.“ Auch wenn jetzt schon viele Folgen der Lockdown-Zeit zu sehen sind: Die Experten der Jugendhilfe rechnen bis Weihnachten noch mit sehr viel mehr Betroffenen. „Viele sind noch gar nicht wieder angekommen. Die Schulen versuchen das ja zunächst selbst zu regeln. Aber wir rechnen damit, dass in den nächsten Wochen auch noch sehr viel mehr bei uns ankommt“, prognostiziert Eva Kleinau, die die Abteilung Jugendhilfe und Schule leitet.

Arbeit dauerhaft sichern

Der Sozialdienst Schule ist bei der Jugendhilfe angesiedelt und unterstützt Grundschulkinder und Jugendliche der Sekundarstufe I in den Familien. Es gibt städtische Mitarbeiter sowie Fachkräfte, die über die freien Träger aus dem offenen Ganztag angestellt sind.

Zuletzt wurde die Förderung dieser Arbeit von Land und Bund umgestellt und eine Aufstockung der Mittel für 2022 in Aussicht gestellt. Die Stadt Gelsenkirchen hatte Anfang 2021 den Eigenanteil der Stadt aufgestockt, um die Arbeit der Fachkräfte dauerhaft sichern zu können.

Die Gründe, warum Schülerinnen und Schüler nicht zur Schule gehen, können in der Schule oder in der Familie oder bei beiden Bereichen liegen: Versagensangst, Angst vor Mobbing und/oder Cybermobbing oder die Angst, dass die Mutter bei der Rückkehr aus der Schule nicht mehr da ist, weil die Eltern sich gerade trennen. „Im Lockdown hat sich aber auch bei Vielen Aggression aufgestaut, ohne dass es Ventile gab dafür. Auch häusliche Gewalt hat zugenommen. Deshalb versuchen wir auch immer zu helfen, mögliche Ventile in der Freizeit zu entdecken, Kontakte zu Vereinen etwa herzustellen.“

Motivation und Selbstvertrauen

Schlüter geht es auch um Träume. „Wir fragen: Was würdest du gerne werden, wovon träumst du?“, erklärt er. Und dann gehe es darum, dass sie sich zutrauen, daraufhin zu arbeiten. Der Weg dahin ist selten kurz. Aber mit Unterstützung kann es gelingen, weiß Schlüter, der auch verrät: „Ich weiß, wovon ich spreche. Aus eigener Erfahrung.“