Gelsenkirchen. Rats-TV, mehr Bürgerbeteiligung, bessere Freistellung, Kinderbetreuung: So planen SPD und CDU in Gelsenkirchen mehr demokratische Teilhabe.

Ein Kommunal-Parlament stellt die Weichen für die Entwicklung einer Stadt. Nirgendwo entscheiden Wähler direkter, was in ihrem Lebensumfeld passiert. Soweit Theorie und Anspruch. In der Praxis sieht das anders aus: Lediglich 41,5 Prozent der Gelsenkirchener Wahlberechtigten warfen 2020 ihren Stimmzettel in die Wahlurne, als über die neuen Stadtverordneten für den Rat und die Bezirksvertretungen abgestimmt wurde. Gerade einmal 26,6 Prozent machten eine Woche später ihr Kreuz bei der Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt.

Rat der Stadt soll über ein „Demokratiestärkungspaket“ entscheiden

Niedrige Prozentwerte, die von Politikverdrossenheit, mangelnder Teilhabe oder schlichtem Desinteresse zeugen, wie Partei-Vertreter jeglicher Couleur gern öffentlich bedauern. Zumindest ein Stück weit eine Schubumkehr wollen jetzt die lokalen Großkoalitionäre SPD und CDU einleiten. Sie legen dem Rat der Stadt ein „Demokratiestärkungspaket“ zur Abstimmung vor. Analog und digital soll sich etliches ändern. Die Spannbreite reicht vom Rats-TV über eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Kommunalpolitik bis zur Weiterentwicklung von Beteiligungsformen und politischer Bildung.

Hochschule soll den Prozess in Gelsenkirchen begleiten und auswerten

Taner Ünalgan,Jahrgang 1992, ist SPD-Stadtverordneter. 
Taner Ünalgan,Jahrgang 1992, ist SPD-Stadtverordneter.  © SPD

Nicht einfach weiter so, wenn es um politische Partizipation und Wahlbeteiligung geht. Das war die Grundstimmung nach der Kommunalwahl bei SPD und CDU. Sie gründeten – einen Arbeitskreis. „Wir wollen das angehen, was in unserer Macht steht“, sagt Taner Ünalgan. Der SPD-Stadtverordnete und Julian Pfeifers, sein christdemokratisches Gegenüber, wurden von ihrer Fraktion mit der Aufgabe betraut, maßgeblich den gemeinsamen Antrag vorzubereiten.

Beide sind jung, beide online-affin. Pfeifers ist Lehrer, Ünalgan Sozialwissenschaftler. Entsprechend fundiert gingen sie die Sache an, entsprechend wollen sie auch wissenschaftliche Begleitung des Prozesses durch eine Hochschule. „Eine Evaluation ist notwendig. Wir wollen sehen, ob das Stärkungspaket, insbesondere das Livestreaming-Angebot, was bringt“, sagt Ünalgan.

Und auch das steht für beide fest: Zur Stärkung der lokalen Demokratie braucht es digitale, vor allem aber analoge Formen. Pfeifers: „Wenn wir Menschen wirklich erreichen wollen, muss das im direkten Kontakt geschehen.“

Diese Punkte sieht der Antrag vor:

– Livestreaming der öffentlichen Ratssitzungen:

Das Vorhaben, breit getragen von etlichen Parteien, war zuletzt im März im Rat in geheimer Abstimmung krachend gescheitert. Da die AfD in der Sitzung angekündigt hatte, sie wolle sich nicht zwangsläufig an Vorgaben und Urheberrechte halten, hätten manche in der Fraktion die Zustimmung verweigert, lautete damals die Erklärung von CDU und SPD. Das soll sich diesmal ändern: Der Antrag wurde nachgeschärft, präziser gefasst, die rechtlichen Voraussetzungen sollen in der Hauptsatzung des Rates verankert werden. Einzig bei der Stadt Gelsenkirchen soll das Nutzungsrecht der Aufzeichnungen liegen – sie soll dann auch gegen mögliche Rechtsverletzungen vorgehen, heißt es in der Vorlage. Mit 3500 bis 7000 Euro (beispielsweise bei Beteiligung eines Gebärdendolmetschers) pro Ratssitzung veranschlagt die Verwaltung die Streaming- und Aufzeichnungskosten pro Ratssitzung.

Pfeifers sieht das Rats TV lediglich als „einen Baustein für Bürgerbeteiligung“, doch insgesamt „muss das ein aktiver Prozess sein“, fordert er. Wesentlich sei, dass sich mehr Menschen einfacher ehrenamtlich einbringen können. „Das ist ein wichtiges Thema für Lokalpolitik“, glaubt Ünalgan.

– Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Politik:

Julian Pfeifers, Jahrgang 1989, sitzt für die CDU im Rat.der Stadt.
Julian Pfeifers, Jahrgang 1989, sitzt für die CDU im Rat.der Stadt. © CDU

Vorbildliche Beispiele aus anderen Städten soll die Verwaltung ab 2022 einem Arbeitskreis vorlegen. Pfeifers und Ünalgan denken dabei an bessere Freistellungsansprüche „für kommunalpolitische engagierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ sowie Auszubildende. Endlos-Debatten in Fachausschüssen soll es nicht mehr geben. Der Antrag sieht eine zeitliche Begrenzung vor.

Zu prüfen sei auch, ob eine zeitweise Aufhebung des Anwesenheitsprinzips und eine vorübergehende Übertragung des Stimmrechts möglich sei, „zum Beispiel bei Krankheit, Schwangerschaft oder Pflege von Angehörigen“. In den Niederlanden, so Ünalgan, gäbe es ein entsprechendes Modell. Die Verbesserung der Kinderbetreuung in Sitzungszeiten und die Möglichkeit, an internen Gremiensitzungen in digitaler Form teilzunehmen, sind weitere Punkte auf der Agenda.

– Stärkere Beteiligung und Teilhabe:

Ganz klassisch „als handfesten Beitrag zur Transparenz“ sieht Ünalgan den Vorschlag für einen „Tag der offenen Tür im Hans-Sachs-Haus“, bei dem sich Verwaltung und auch Parteien jährlich mit entsprechendem Rahmenprogramm mit ihrer Arbeit der Öffentlichkeit vorstellen.

Bürgerbeteiligungen bei Bebauungsplänen oder Bezirksforen wie „Gelsenkirchen – lass uns reden“ gibt es bereits. Sie sollen optimiert und als Beteiligungsformate weiterentwickelt werden, beispielsweise durch stärkere E-Partizipation, also digitale Beteiligung. „Wir müssen unbedingt diskutieren, wie wir hier weitere Zielgruppen ansprechen“, betont Pfeifers.

– Bildung und Öffentlichkeitsarbeit:

Wie Kommunalpolitik näher an die Schulen und Schüler gebracht werden kann, welche Rolle die Volkshochschule bei der niederschwelligen Bildung einnehmen kann oder auch wie die bisher angebotenen kommunalpolitischen Planspiele intensiviert werden können, soll von der Verwaltung geprüft und in einem Konzept vorgelegt werden.

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Schulen sollen zudem verstärkt zu Sitzungen des Rates, der Ausschüsse und Bezirksvertretungen eingeladen werden. „Dieser Punkt ist mir besonders wichtig“, sagt Ünalgan – auch aus eigener Schulerfahrung. „In der gesamten Zeit dort habe ich nie etwas über Kommunalpolitik vermittelt bekommen.“

Letzter Punkt: „Altersspezifische Werbung“ sowohl digital wie auch digital ausgespielt sowie entsprechendes kommunalpolitisches Infomaterial soll helfen, das „Demokratiestärkungspaket“ bekannter zu machen.