Gelsenkirchen-Bulmke-Hüllen. Die Gelsenkirchener Industriebrache ist Ansiedlungsort für Pioniere und Weltunternehmen. So ist der Vermarktungsstand, diese Firmen bauen gerade.

Sascha Müller ist hier so etwas wie der Pionier, der im Wilden Westen als erster Grund erworben hat, um sich niederzulassen. Nein, natürlich nicht mit einer Ranch, sondern mit einem Betrieb: „Die Night Fever Showtechnik“ war eine Verlagerung innerhalb Gelsenkirchens. „Wir sind von der Gewerkenstraße aus hierher gezogen“, sagt Müller. 2012 hat er sein Grundstück gekauft, im Frühjahr 2013 ist er mit seiner Firma eingezogen, realisiert seither teils für Global Player die technische Inszenierung von Marken und Produkten.

Bilstein Group investiert in Gelsenkirchen 120 Millionen Euro

Wheels Logistics hat Müller damals um einige Wochen „geschlagen“ und eröffnete Anfang April seinen Standort an der Europastraße: Seit Mitte November 2012 wurden auf 67 000 Quadratmeter Grund zwei 18.500 Quadratmeter große Hallen und ein Verwaltungsbereich für die Lagerlogistik, spezialisiert auf Getränkedosen, hochgezogen und nach einem guten Jahrzehnt der alte, 700 Meter lange Gleisanschluss reaktiviert – Brückenneubau über die Ückendorfer Straße inklusive. 15 Millionen Euro investierte Wheels Logistics damals in den neuen Standort, mit 30 Beschäftigten startete der Betrieb vor Ort. Bei Müller sind es vier Kollegen, einen Teil seines 550 Quadratmeter Firmensitzes hat er untervermietet. Nebenan ist ein Kfz-Betrieb, rundum grüne Hügel, der riesige Solarbunker und noch viel Freifläche. „Ich hatte damit gerechnet, dass wir schneller Nachbarn bekommen“, sagt Müller.

Hüttenwerk mit sechs Hochöfen und rund 6000 Mitarbeitern

Das mit fast 200.000 Quadratmeter größte Grundstück hat sich die Bilstein Group in Gelsenkirchen gesichert.
Das mit fast 200.000 Quadratmeter größte Grundstück hat sich die Bilstein Group in Gelsenkirchen gesichert. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Start Ups, Handwerksbetriebe, Dienstleister, produzierendes Gewerbe, ein Fleischverarbeitungsbetrieb, große Logistiker, aber auch Wohnraum und ein Schulneubau – das ist der Mix, auf dem am Schalker Verein auf knapp 100 Hektar Fläche Zukunft generiert wird. Hier, im Riesenareal zwischen Bahnstrecke, Hohenzollern- und Wanner Straße, gab einst die Montanindustrie den Takt vor. Vom Hüttenwerk mit sechs Hochöfen und rund 6000 Mitarbeitern in der Blütezeit bis etwa 1951 blieben Industrieruinen: das Torhaus 1, die Kraftzentrale mit dem alten Schalthaus. Das rottende Denkmal prägt das Entree am Kreisverkehr Hohenzollernstraße und steht seit etlichen Jahren optisch nicht gerade für Aufschwung. Doch den Verfall lässt schnell hinter sich, wer über die Europastraße fährt, den zeitgemäß kühl und funktional gestalteten Europaplatz und den Skatepark rechts liegen lässt, zum Schalker Verein West und Ost vordringt: Vorbei an Neubauten, an der Westfalen-Tankstelle, Brachland, mitten hinein in den Bau-Boom zwischen Bagger-Ballett und Kran-Huberei.

Wer in die Logistikstandorte ziehen wird, ist noch nicht bekannt.

Der Platz am Schalthaus wurde vor gut zehn Jahren bereits von  der Stadt neu gestaltet, das Schalthaus steht noch als Ruine da, Lösungen gibt es auch noch nicht für die alten Torhäuser. Immerhin: Die Kraftzentrale wird eingebettet in die Schulneubau-Planung
Der Platz am Schalthaus wurde vor gut zehn Jahren bereits von der Stadt neu gestaltet, das Schalthaus steht noch als Ruine da, Lösungen gibt es auch noch nicht für die alten Torhäuser. Immerhin: Die Kraftzentrale wird eingebettet in die Schulneubau-Planung © Funke Foto Services | Martin Möller

Die WDP_VIB Projektentwicklungsgesellschaft für Logistik, eine Neuansiedlung aus Neuburg an der Donau, errichtet auf 81.000 Quadratmetern Grund derzeit eine Logistikanlage. Im Bau ist auch auf 24.400 Quadratmeter Fläche der Hallenneubau von DF Industrial Partners AGI. Wer in die Logistikstandorte ziehen wird, ist noch nicht bekannt. Gegenüber ist die Lage anders: Dort wächst ein XXXL-Projekt rasant heran. Der Bauherr ist auch der Nutzer: Die Bilstein Group aus Ennepetal hat fast 200.000 Quadratmeter Schalker Verein von der Saint Gobain PAM Deutschland GmbH erworben. Ende November 2019 wurde – zunächst auf rund der Hälfte des Grundstücks – der Baustart für ein neues Logistikzentrum des international operierenden Herstellers und Lieferanten für Pkw und Nutzfahrzeug-Ersatzteile gefeiert. Investitionsvolumen insgesamt:rund 120 Millionen Euro. „Die Fläche in Gelsenkirchen bietet uns ideale Expansionsmöglichkeiten“, so Geschäftsführer Jan Siekermann bei der Grundsteinlegung.

Industriegeschichte ab 1873

Auf dem Gelände Schalker Verein erfolgte von 1873 bis zur Explosion eines Hochofens 1982 die Produktion von Roheisen zur Herstellung von Gussrohren. Bis 2004 wurde das Eisen für die Produktion noch mit der Bahn geliefert. 1996 wurden von der ehemaligen Landesentwicklungsgesellschaft (heute NRW.Urban) eine 37 Hektar große Teilfläche des Geländes Schalker Verein zur Sanierung und anschließenden Vermarktung übernommen. Mit Stilllegung der Gussrohrherstellung erfolgte auch auf dem 63 Hektar großen Geländeteil in der Verantwortung der Firma Saint-Gobain die Neuausrichtung der Brachfläche. Nach Abschluss aller Unternehmensentwicklungen werden am Standort des ehemaligen Hüttenwerkes aus heutiger Sicht bis zu 2000 Personen beschäftigt sein. Weitere „77.600 Quadratmeter Fläche mit derzeit zehn betrieblichen Einzelvorhaben wurden bereits verkauft oder reserviert“, so die Bilanz der Wirtschaftsförderer. Unternehmensnamen könnten aus Datenschutzgründen nicht genannt werden.

Das Projekt liegt finanziell und Zeitlich im Plan. „Im August 2021 wird das Gebäude vom Generalunternehmer an uns übergeben. In der zweiten Jahreshälfte erfolgen die Kopplung der Logistiktechnik mit dem Lagerverwaltungssystem sowie weitere intensive Tests der Logistikprozesse. Im März 2022 werden die ersten Artikel eingelagert, die erste Auslieferung erfolgt dann voraussichtlich im Mai“, sagt Unternehmenssprecher Sebastian Schürmann. Auch die Mitarbeitersuche läuft. Schürmann: „Wir haben mit dem Recruiting begonnen und suchen ab sofort neue Mitarbeiter, zunächst vor allem auf der Fach- und Führungsebene. Zum Hochlauf 2022 wollen wir rund 200 neue Mitarbeiter einstellen, darunter etwa 160 gewerbliche Mitarbeiter. Danach planen wir mit zusätzlichen Einstellungen im Rahmen des weiteren Kapazitätsausbaus.“

+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Gelsenkirchen verpassen? Dann können Sie hier unseren kostenlosen Newsletter abonnieren +++

Start mit einer „Portion gesunder Naivität“: Sascha Müller zog früh mit der Night Fever Showtechnik zum Schalker Verein
Start mit einer „Portion gesunder Naivität“: Sascha Müller zog früh mit der Night Fever Showtechnik zum Schalker Verein © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Von den ehemals für neue Nutzungen vermarktbaren Flächen in der Größe von insgesamt 621.000 Quadratmeter stehen derzeit nur noch 14.000 Quadratmeter für einen Verkauf zur Verfügung. Dies bedeutet eine aktuelle Vermarktungs- und Nutzungsquote von nahezu 98 Prozent. „Die sehr gute aktuelle Nachfragesituation nach Gewerbegrundstücken wird voraussichtlich dazu führen, dass die verbleibenden freien Flächen noch im Jahre 2021 verkauft werden können“, glauben die Vermarkter.

Stadtrat: Wir haben jetzt einen guten Mix unterschiedlicher Nutzungen

„Eine Industriebrache dieser Größenordnung zu reaktivieren, das war schon ein großer Kraftakt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, wir haben jetzt einen guten Mix unterschiedlicher Nutzungen“, findet Stadtrat Christopher Schmitt. Dazu beigetragen haben auch die ersten realisierten Einfamilien-Heime im Westen des Geländes. Die Vista Reihenhaus GmbH aus Mönchengladbach vermarktete und baute 91 Einfamilienhäuser auf zusammen 22.700 Quadratmeter Grund. Und auch für das Schalthaus zeichnet sich nun eine Lösung ab. Es wird eingebunden in einen Schulneubau. Die „Europaschule“, so der Beschluss von 2019, soll bis 2024 auf dem „Platz am Schalthaus“ sowie den südlich und östlich angrenzenden Teilflächen als Gesamtschule errichtet werden. Weitere entfernte, neue Nachbarn für Night Fever-Chef Sascha Müller sind also in Sicht. Dann gut ein Jahrzehnt, nachdem der Pionier den Schritt in die Wildnis wagte.