Gelsenkirchen-Beckhausen. Am meisten haben Gelsenkirchener in der Corona-Zeit Treffen mit ihren Liebsten vermisst. Eine Rentnerin berichtet von ihrem Jahr der Einsamkeit.

Während unseres Gespräches klingelt das Telefon. Gisela Holstein nimmt den Hörer ab. „Ja“, sagt sie, und ihr Blick hellt sich auf. „Kann man das denn wieder? Ja, das würde ich gerne!“ Der Hockergymnastik-Kursus der Seniorin, Ende 70, kann bald wieder stattfinden. Langsam geht es aufwärts. Nach einem Jahr, mit dem die Gelsenkirchenerin so einige traurige Erinnerungen verbindet.

830 Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener haben am großen Corona-Check der WAZ teilgenommen. Die allergrößte Mehrheit von ihnen, ungeachtet des Alters, haben Treffen mit Familie und Freunden während der Pandemie am meisten vermisst. Den Spitzenwert in diesem Bereich erzielte mit 85,7 Prozent die Gruppe 60+. Vielen ging es wohl so wie Gisela Holstein.

Gelsenkirchenerin: Alle gewohnten Aktivitäten fielen durch Corona weg

Holsteins Mann verstarb vor acht Jahren. „Weil ich immer viel gearbeitet habe, hatte ich gar keinen großen Bekanntenkreis in Gelsenkirchen. Meine Schwester lebt in Duisburg, meine beiden Söhne in Bochum und Trier“, berichtet die Steuerfachangestellte in Rente. Die Kontakte hat sie sich mittlerweile aufgebaut. Sie engagiert sich im Quartiersnetz Schaffrath, organisiert Spielnachmittage und Frühstücke für Alleinstehende, unterstützt Vorleseprojekte an Schulen, geht zur Wassergymnastik und trifft sich regelmäßig mit einer ZWAR (Zwischen Arbeit und Ruhestand)-Gruppe.

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Als Corona kam, fielen all diese Dinge auf einen Schlag weg. „Während des ersten Lockdowns habe ich alles gemacht, wozu man sonst keine Lust hat“, erinnert sich Holstein. „Schränke aufräumen, im Keller Ordnung machen, Unterlagen sortieren.“ Im Herbst 2020 sei es ihr dann schon wesentlich schwerer gefallen, sich zu beschäftigen. „Eigentlich habe ich dann nur noch die normalen Dinge des Alltags erledigt. Einmal die Woche eingekauft, ansonsten gelesen, ferngesehen, Spaziergänge gemacht und viel telefoniert.“

Familienfeiern verpasst, Beisammensitzen und Umarmungen fehlten in der Corona-Zeit

Ob sie sich oft einsam gefühlt habe? „Das kann man wohl sagen“, nickt Holstein. „Durch die ganzen wegfallenden Aktivitäten fehlen alle Anregungen von außen. Man wird innerlich einsam.“ In den langen Monaten habe sie gespürt, wie der Lockdown sie verändert habe: „Man wird antriebsloser, gibt sich mit dem Status quo zufrieden.“

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Besonders traurig für die Rentnerin, die sich selbst als „totalen Familienmensch“ bezeichnet: Sie konnte den 18. Geburtstag ihrer Enkel und den 50. ihrer Schwiegertochter nicht gebührend feiern und verpasste die Abiturfeier eines Enkels. Ihr Sohn aus Bochum kam nur noch einmal pro Woche zum Spaziergang auf Abstand vorbei. Auf alles, was sie sonst zusammenschweißt – Kaffeetrinken, Beisammensitzen, Umarmungen – verzichteten sie.

Heiligabend in Quarantäne alleine zu Hause verbracht

Und dann der traurige Höhepunkt: Nachdem sie es vor Weihnachten endlich einmal wagte und ihre Familie in Trier besuchte, bekam sie die Nachricht, dass sich ihre Enkelin mit Corona infiziert hatte. Holstein wurde unter Quarantäne gestellt und verbrachte Heiligabend allein zu Hause. „Das war sehr traurig“, sagt sie rückblickend. „Wir haben dann einen WhatsApp-Videoanruf mit allen Familienmitgliedern gemacht. Aber die Verbindung war so schlecht, dass ich alle nur winzig klein und unscharf sehen konnte.“

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Trotz allem hat Gisela Holstein ihre positive Einstellung nicht verloren. Sie sagt zwar: „Ich habe mit anderen älteren Menschen über das Thema gesprochen und wir haben alle das gleiche Gefühl: Wir sind nicht mehr jung, haben nicht mehr unzählige Jahre – und nun fehlt uns ein Jahr komplett.“ Gleichzeitig betont sie: „Ich würde niemals jammern, weil ich weiß, dass es vielen anderen noch viel schlechter geht. Für Jugendliche und junge Familien war das Corona-Jahr mindestens genauso schwer.“

Gelsenkirchenerin hat sich in technischen Dingen enorm weitergebildet

Schon ein einigen Monaten, da ist Holstein zuversichtlich, werden wieder kleinere Treffs und Veranstaltungen des Quartiersnetzes stattfinden können. Bis dahin konzentriert sich die Seniorin auf die positiven Aspekte der Krise. So hat sie sich in technischen Dingen enorm weitergebildet. „Neulich sagte eine Freundin aus der ZWAR-Gruppe: Ruf doch mal diese Sport-Videos bei Youtube auf“, erzählt sie zum Beispiel lachend. „Seitdem mache ich jeden Tag Gymnastik vor dem Computer.“