Um die Digitalisierung voranzubringen, will das Wirtschaftsministerium ausländische Hilfe anfordern. Warum Gelsenkirchener Start-ups empört sind.

Mit einem Protestbrief haben deutsche Start-ups, darunter auch aus Gelsenkirchen, auf die jüngsten Äußerungen von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier reagiert. Der Unionspolitiker will notfalls auch Hilfe aus Estland anfordern, um die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung voranzutreiben. Für die Start-ups ist diese Aussage ein Affront - sie fühlen sich von der Politik nicht ausreichend wertgeschätzt.

Kritik an Politik: Chancen der Digitalisierung wurden schlichtweg liegengelassen

Die führenden Köpfe der Start-ups (CEOs) haben nichts gegen einen Erfahrungs- und Wissensaustausch auf internationaler Ebene, wie sie in dem Protestbrief betonen. Wohl aber kritisieren sie mit Blick auf das Wirtschaftsministerium die „fehlende Wertschätzung nicht nur aus Ihrem Hause für die hiesige Start-up-Szene, die zu unserem großen Bedauern auch dazu geführt hat, dass in der Pandemiesituation Chancen und Erleichterungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, schlichtweg liegengelassen worden sind.“

Markus Hertlein (r.), Geschäftsführer der XignSys GmbH, hier bei der Pressekonferenz zur digitalen Modellstadt Gelsenkirchen Anfang 2019.
Markus Hertlein (r.), Geschäftsführer der XignSys GmbH, hier bei der Pressekonferenz zur digitalen Modellstadt Gelsenkirchen Anfang 2019. © Funke Foto Services GmbH | Joachim Kleine-Büning

Protestbrief: Gelsenkirchen IT-Spezialisten XignSys und Aware7 gehören zu den Unterzeichnern

Zu den Unterzeichnern des Schreibens zählen unter anderem die Gelsenkirchener CEOs Markus Hertlein (XignSys GmbH) sowie Matteo Große-Kampmann (Aware7 GmbH). Die Äußerungen hätten sie „um von Beginn an offen und direkt zu sprechen, nicht nur irritiert, sondern vor allem auch enttäuscht“, heißt es in dem Schreiben.

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Matteo Große-Kampmann, CEO des Gelsenkirchener IT-Sicherheits-Start-ups „Aware7“.
Matteo Große-Kampmann, CEO des Gelsenkirchener IT-Sicherheits-Start-ups „Aware7“. © Michael Schwettmann

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XignSys hat beispielsweise eine Technologie entwickelt, die Authentifizierung, Zahlungsverkehr und digitale Signaturen ohne Passwörter und zusätzliche Hardware möglich macht. Aware7 analysiert digitale Infrastrukturen und Anwendungen auf Sicherheitslücken hin und erarbeitet Sicherheitsstrategien. Zuletzt, so die CEOs, habe unter anderem die Tagesschau über diese Entwicklungen berichtet, dennoch, so schreiben die IT-Pioniere, „scheinen solche Berichte nicht auszureichen, um Ihre Beachtung zu finden“. Das Problem: Mit ihren durchaus marktreifen Produkten kommen Start-ups eher selten zum Zug, selbst bei kleinen Ausschreibungen der öffentlichen Hand.

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Gelsenkirchener Start-ups: Ideen und Tatkraft liegen vor der Haustür

Dass die Digitalisierung der Verwaltung in Deutschland dem Fortschritt anderer europäischer Länder, beispielsweise des Baltikums, hinterherhinkt, das hat auch Bundeswirtschaftsminister Altmaier erkannt. Anlässlich der Hannover-Messe im Digitalformat lobte der Minister nach Agenturangaben die Errungenschaften dieser Staaten: „Ich halte es schon für ein großes Problem, dass wir viele Jahre nach Estland, Lettland, Litauen in zwei oder drei Jahren erst so weit sein werden, dass alle Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung für die Wirtschaft, für die Bürgerinnen und Bürger digitalisiert werden können.“ So sei er „notfalls auch bereit, das beste digitale Online-Team aus Estland einzufliegen zu lassen“ um hierzulande schneller voranzukommen. Das Thema habe „absolute Priorität“.

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Das stößt den Start-ups sauer auf. Die CEOs sehen die Gründe für diese Problematik nicht in fehlender Kompetenz der hiesigen IT-Branche sondern, wie herauszulesen ist, wohl eher in der Trägheit von Behörden, Institutionen und Politik, die die Digitalisierung ausbremse.

Digitalisierungsindex zeigt Fortschritt und Mängel auf

Laut Digitalisierungsindex am weitesten fortgeschritten bei der Digitalisierung sind die Informations- und Kommunikationsbranche (IKT, 273,0 Indexpunkte bzw. 273 Prozent des Branchen-Durchschnitts), der Fahrzeugbau (193,0 Indexpunkte) sowie die hier gemeinsam betrachteten Branchen Elektrotechnik und Maschinenbau (144,3 Indexpunkte).

Am wenigsten digitalisiert zeigt sich das Sonstige Produzierende Gewerbe, wozu unter anderem das Baugewerbe zählt, (55,6 Indexpunkte), die Tourismusbranche (64,4 Indexpunkte) und das Sonstige Verarbeitende Gewerbe, dem die Herstellung von Textilien angehört (66,7 Indexpunkte).

Der Index wird im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie erstellt. Der nächste Bericht wird im Herbst 2021 erwartet.

So schreiben Hertlein, Große-Kampmann und Co.: „Ideen und Tatkraft sind vorhanden, sogar direkt vor der eigenen Haustür, in öffentlichen Verwaltungen, an den Hochschulen, in Start-ups. Sie müssen aber eben auch nachgefragt und gehört werden, oder, um es für Sie als literaturaffinem Menschen mittels eines Zitates aus Goethes Faust auszudrücken: ‘Der Worte sind genug gewechselt, Laßt mich auch endlich Taten sehen.’“