Gelsenkirchen. Warum Gelsenkirchen eine Uni braucht und vom Kern-Ruhrgebiet Abstand nehmen sollte: Ein Gespräch mit Lutz Heidemann über Visionen für die Stadt.
Man könnte ihn als den Weisen der örtlichen Stadtplanung bezeichnen: Lutz Heidemann hat auch nach seiner Pensionierung 2000 nie geruht, Gelsenkirchen weiter zu denken und unermüdlich für einen erfolgreichen Strukturwandel und den Erhalt besonderer Architektur in der Region zu kämpfen. Nun ist es insbesondere die wieder aufgekommene Idee eine Emscheruniversität, die den 82-jährigen Bueraner und ehemaligen Stadtplaner veranlasst, sich erneut zu Wort zu melden. Quo vadis Gelsenkirchen, Herr Heidemann?
Herr Heidemann, was ist Ihre Vision von Gelsenkirchen?
Lutz Heidemann: Diese Stadt braucht Qualität. Man hat aber oft den Eindruck, dass wir so etwas wie der Hinterhof von Essen geworden sind. Jetzt soll die Hängebank vom Bergwerk Consolidation in Bismarck, die inzwischen letzte ihrer Art im Ruhrgebiet, abgerissen werden – während weiter Millionen nach Zollverein fließen. Meine stadtplanerische Vision ist eine Öffnung nach Norden. Im Raum zwischen Emscher und Lippe gibt es noch Platz, von da aus können neue Impulse ausgehen. Die Hellweg-Großstädte denken nicht an das „arme“ Gelsenkirchen oder das „arme Herne“. Wenn wir im nördlichen Ruhrgebiet sozialen Wandel erreichen wollen, müssen wir uns umorientieren.
Gelsenkirchen sollte sich also Verbündete suchen?
So kann man es sagen. Das Ruhrgebiet hat eine gemeinsame Vergangenheit, aber keine gemeinsame Zukunft. Es gibt unter den existierenden Großstädten zu viele Eigeninteressen. Im Landkreis Recklinghausen und zusammen mit Gelsenkirchen und Herne leben mehr als eine Million Menschen. Für die würde es sich rechnen, außergewöhnliche Kultureinrichtungen zu schaffen und zu unterhalten.
Populärer scheint die Zukunftsvision, dass das Ruhrgebiet mehr zusammenwachsen soll.
Das halte ich für falsch. Das Gebiet nördlich der B1, dem früheren Ruhrschnellweg, ist bekanntlich eine Armutszone. Die schlechten Strukturen würden sich aus meiner Sicht dadurch nur noch mehr verfestigen. Viel eher müsste ein „Vestisches Gefühl“ entstehen und gepflegt werden, um die Bedürfnisse und Qualitäten von Recklinghausen, Marl oder Dorsten mit in den Strukturwandel einzubeziehen.
Die Bundesregierung nimmt mit dem sogenannten Fünf-Standorte-Programm 662 Millionen Euro in die Hand, um den vom Kohleausstieg betroffenen Gemeinden zu strukturell zu helfen. Wo würden Sie das Geld investieren?
Die Industrie passt schon auf, dass sie zum Beispiel an der sinnvollen Wasserstoff-Technologie verdient, aber ob das Geld in der Region bleibt, ist unsicher. Die Gemeinden im nördlichen Ruhrgebiet bräuchten ein Zehnjahresprogramm zur gezielten städtebaulichen Umstrukturierung, so etwas wie eine zweite Internationale Bauausstellung. Die damals von der Landesregierung geförderte IBA hat zum Teil an den Stadtverwaltungen vorbei agiert, aber brachte dabei internationale Strahlkraft ein. So etwas sollte wiederholt werden. Das zweite wäre eine Universität.
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Sie halten also viel von der Vision einer Emscher-Universität, die jüngst wieder aufgekeimt ist?
Ja, doch würde ich lieber von einer Emscher-Lippe-Universität sprechen. Neben den guten anwendungsbezogenen technischen Ausbildungen an der Westfälischen Hochschule sollte eine zweite Fakultät ins Leben gerufen werden mit einem ganz anderen Fokus. Statt technisch orientierter Felder sollten humanwissenschaftliche Fragen angegangen werden. Das wären Bildungseinrichtungen, die den Strukturwandel unterstützen und auf die Weise die hier Ausgebildeten in der Stadt oder Region halten. Es könnte zum Beispiel im ersten Schritt so etwas wie ein Sozialforschungsinstitut sein.
Zur Person
Lutz Heidemann wurde 1938 in Dresden geboren, kam als „Evakuierter“ in ein thüringisches Dorf, erlebte eine DDR-Jugend bis kurz vor dem Abitur, das er in West-Berlin machte. Es folgte ein Architektur-Studium an der Technischen Hochschule Aachen mit den Nebenfächern Kunstgeschichte, Geschichte und Soziologie. Nach kurzer Tätigkeit in einem Bielefelder Architektenbüro wurde er Assistent an der Ruhr-Universität Bochum. 1972 wechselte er ins Planungsamt der Stadt Gelsenkirchen. 1977 wurde er als Soziologe promoviert.
Heidemann war hier Leiter der Abteilung für Vorbereitende Bauleitplanung und stellvertretender Amtsleiter. Eine Zeit war er auch Leiter der unteren Denkmalbehörde. Während der von 1989 bis 1999 durchgeführten Internationalen Bauausstellung Emscher Park war er an mehreren Gelsenkirchener Projekten beteiligt.
Wird man damit wirklich die dringlichen Probleme von Gelsenkirchen – die Arbeitslosigkeit, die Armutseinwanderung oder Kinderarmut – lösen können?
Nehmen wir ruhig das Beispiel der Migration aus Südost-Europa und der Türkei. Hier sehe ich empirischen Forschungsbedarf, zum Beispiel mit der Methode der Biografie-Rückverfolgung von Zuwanderer-Familien: Wer war erfolgreich, wer nicht, was können wir daraus für die Praxis lernen? Man könnte im Austausch mit rumänischen Instituten, die zu den Roma forschen, bisherige Integrationsbemühungen wissenschaftlich begleiten und auswerten. Es geht um Erfolgskontrollen bisheriger Maßnahmen. Forschungen und Wissensvermittlungen zur Geschichte der Balkan-Staaten und der Türkei dürften junge Menschen ansprechen und bei ihnen Selbstwertgefühl wecken. Damit könnten wir auch internationale Forscher aus der Türkei oder dem Balkan anziehen.
Sie wollen Eliten aus den Herkunftsländern vieler Migranten anlocken?
Staatspräsident Erdogan vertreibt gerade liberale türkische Wissenschaftler. Warum sollten sie nicht hier Räume zur Entfaltung erhalten?
Trotzdem: Die akuten Probleme von Gelsenkirchen bekämpft man damit nicht.
Man kann nicht nur schnell an locker sitzenden Schrauben drehen. Die Frage ist doch, wie kann so etwas wie eine soziale Dynamik entstehen. Haben wir in den letzten Jahrzehnten im Tempo aufgeholt oder sind wir zurückgefallen? Grundsätzlich: Es fehlt eine an Hochschulen ausgebildete Gruppe, von der strukturverbessernde Impulse ausgehen. Diese Gruppe zu stärken, braucht es einen langen Atem – und politischen Willen.
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