Gelsenkirchen. Sie kennt Gelsenkirchen bestens und ist doch die Neue: Karin Welge redet über die Startphase als Oberbürgermeisterin, Ideen, Ziele und Wünsche.
Im Rat der Stadt wird Karin Welge Donnerstag als neue Oberbürgermeisterin vereidigt. Ins Amt gewählt wurde sie bei der Stichwahl am 27. September mit 59,4 Prozent der Stimmen. Zwei Monate ist das her. Zeit für den ersten Rückblick – und erste Ausblicke.
Als Beigeordnete haben Sie etliche Jahre Erfahrung und entsprechende Routine. Nun sind sie seit fast zwei Monaten Oberbürgermeisterin. Was hat Sie zunächst beschäftigt?
In der ersten Zeit habe ich intensive Gespräche mit den politischen Akteuren geführt. Die Frage war: Wie findet sich nach einem durchaus polarisierenden Wahlkampf Demokratie zusammen? Wenn man sich dann für eine Partei entschieden hat, ist da bei mir natürlich auch das große Vertrauen, dass andere Demokraten die Zukunft der Stadt ebenfalls mitgestalten. Darüber hinaus ist das normale Tagesgeschäft weitergegangen. Corona beschäftigt mich als Oberbürgermeisterin mindestens genauso wie zuvor als Krisenstabsleiterin. Zudem bin ich im engen Austausch etwa mit der Bezirksregierung Münster in allen Angelegenheiten der Stadtentwicklung oder dem neuen Kommunalrat, beispielsweise über die Stärkung und Zusammenarbeit der Ruhrgebietsstädte. Dazu kamen natürlich noch die Koalitionsverhandlungen, die Vorbereitung der ersten Ratssitzungen. Im Dezember haben wir noch die Haushaltseinbringung. Wir sind aufgrund der Wahl sehr spät dran und haben wegen Corona extreme Umstände für die Haushaltsplanung.
Die Abläufe in der Gelsenkirchener Verwaltung und die handelnden Akteure in der Stadt sind Ihnen vertraut. Sie konnten und mussten ja deshalb sozusagen einen fliegenden Start hinlegen. Hat sich auch direkt ein „OB-Gefühl“ bei Ihnen eingestellt?
Der Wahlkampf war bis zum letzten Tag sehr intensiv, dazu kam die Rolle als Krisenstabsleiterin, meine Aufgaben als Kämmerin. Da blieb keine Zeit, sich vorab schon mal in das neue Amt einzufühlen. Hier angekommen, ging es dann auch direkt vom ersten Tag an los. Neu ist natürlich, als Verwaltungschefin und nicht als Dezernentin in der Verwaltung wahrgenommen zu werden. Was nicht so schön war: Ich habe viele Mitarbeiter, auch hier auf der fünften Etage, die habe ich noch nicht wirklich besuchen können. Wenn es wieder möglich ist, werde ich durch alle Flure gehen, um Hallo zu sagen. Ich finde es wichtig, den Menschen ein persönliches Bild zu geben. Damit auch Mitarbeiter fühlen können, wie die OB tickt. Viele Leute habe ich eingeladen, Gespräche zu führen. Dazu kommen noch etliche Projekte, die ich mit anschieben möchte. Mobilität der Zukunft, Klimaschutz, Integration, die Transformation der Wirtschaft und das alles überragende Thema der bestmöglichen Bildung für alle Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener: Das sind schon große Herausforderungen. Für die Kürze der Zeit ist das schon ein extrem ambitioniertes Programm. Eigentlich komme ich derzeit keinen Abend vor 22 Uhr nach Hause. Ich mache mir dann Musik an und lasse auch auf mich wirken, was ich an dem Tag erlebt habe.
Ihr Schreibtisch sieht nach viel Arbeit aus. Offensichtlich hat es auch ein paar Orchideen von Gratulanten gegeben. Ansonsten ist das OB-Büro weitgehend unverändert.
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Das ist wohl so. Aber es ist im Moment nicht meine allererste Priorität, hier neu zu dekorieren. Dafür liegt zu viel anderes an.
Der Oberbürgermeister hatte eine eingespielte Mannschaft. Wird es Personal-Veränderungen geben?
Mein Büroleiter geht Ende des Jahres in den Ruhestand, das ist seit rund anderthalb Jahren bekannt. Da wird es also eine Veränderung geben müssen. Ich bin generell jemand, der sich die Rahmenbedingungen anschaut und überlegt, was er wie haben möchte. Auch bin ich ein Freund von gut funktionierenden Organisationen - und ich schätze einen offenen Umgang mit Fehlern. Fehler passieren. Dann geht es eben darum, daraus zu lernen. Es geschehen immer Dinge, die suboptimal sind. Wenn ich damit nicht umgehen kann, verkruste ich ein System, in dem alles immer vermeintlich richtig ist. Und dann komme ich irgendwann an einen Punkt, an dem ich nichts verändere, weil ja nichts verkehrt ist. Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass die Mitarbeiter, die hier auch für mich arbeiten, das sehr gerne tun. Ich glaube aber auch, ein Chef ist gut beraten, Dinge zu hinterfragen, zu gucken, was man auffrischen kann oder, wenn nötig, umzusteuern und auch mal neu zu denken. Manchmal ist es auch gut, den Blick von außen zu haben. Sonst wird man betriebsblind.
Was erwarten und erhoffen Sie von den Parteien und der Politik?
Ich bin fest überzeugt: Besser wird es immer nur gemeinsam. Die politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre haben überall Schmerzen hinterlassen und wirklich produktiv waren sie leider auch nicht. Ich hoffe sehr, dass wir das hinter uns lassen. Mein Satz von der ausgestreckten Hand ist sehr ernst gemeint: Wir brauchen jeden Demokraten in dieser Stadt. Wir brauchen jeden, der mit guten Ideen kommt, der sich einbringen möchte. Und ich erwarte auch von allen Demokraten, dass sie einen guten Umgang miteinander pflegen und dass das Vorankommen der gemeinsamen Stadt bei ihnen im Mittelpunkt steht.
Die Wahlbeteiligung auch bei der OB-Stichwahl war mit 26,6 Prozent erschütternd gering. Wie gehen Sie damit um?
Wir sind schon davon ausgegangen, dass die Beteiligung nicht hoch ausfällt , aber natürlich ist das enttäuschend. Hier auf lange Sicht eine Trendwende einzuleiten, ist eine wichtige, aber auch schwierige Aufgabe. Deshalb haben wir uns auch bewusst für den stabilen politischen Konsens einer Großen Koalition entschieden. Ich empfinde es schon als großen Erfolg, auch so diese Stadtgesellschaft etwas mehr zu einen. Die hohe Kunst besteht darin, die Menschen mitzunehmen, die teilweise hohe Erwartungen haben und ganz unterschiedliche Einstellungen und Ideale. Kommunalpolitik lebt davon, dass die Leute mitmachen. Dafür braucht es regelmäßige, kleine Erfolge. Nicht Wenige haben so eine Vorstellung vom Kümmern. Das ist ja auch ein durchaus wichtiger Aspekt. Was wir den Menschen aber nicht abnehmen können, ist die Verantwortung fürs eigene Leben, das eigene Tätigwerden. Deshalb geht es mir darum, Erfolgsstrukturen zu schaffen, nicht Versorgungsstrukturen. Es muss uns gelingen, die Dinge einfach zu machen, damit die Bürgerinnen und Bürger verstehen, was wir tun, warum wir es tun, was unsere Rahmenbedingungen sind, dass wir es ernst meinen und dass wir echte Erfolge für unsere Stadt organisieren wollen.
88 Stadtverordnete hat der neue Rat, vertreten sind zehn Parteien. Was ist da zu erwarten?
Die Arbeit wird angesichts der Vielfalt im Rat der Stadt sicher nicht einfach werden. Aber es gilt, zu Beginn erst einmal zuversichtlich in die Wahlperiode zu gehen, in dem Bewusstsein, dass die demokratischen Kräfte im Rat gut zusammenarbeiten wollen. Das ist das Fundament für eine gute Ratsarbeit in den nächsten Jahren.
Bislang gehörte Repräsentation nur bedingt zu Ihrem Berufsprofil. Wie sehen sie da Ihre neue Rolle als erste Frau der Stadt?
Vom Wesen her bin ich ein Mensch, der das nicht zu seinen ersten Aufgaben zählt. Aber im Wahlkampf habe ich bereits sehr viele Gespräche geführt, tolle Menschen kennengelernt - und das sehr genossen. Ich freue mich darauf, die Stadtgesellschaft auch in der Rolle der Oberbürgermeisterin noch besser kennenzulernen und zu vertreten. Ich werde versuchen, da einen guten Mix hinzukriegen. Ansonsten setze ich sehr darauf, auch den Beigeordneten ihre Rolle zu lassen. Das sind ja hoch qualifizierte Menschen, die genauso für die Stadt brennen wie ich. Und dann haben wir ab Donnerstag ja auch zwei Bürgermeister, die selbstverständlich ebenso ihre Rolle ausfüllen werden.
Die Corona-Pandemie überstrahlt aktuell thematisch alles. Was bedeutet das fürs Zusammenleben und die Stadtfinanzen?
Für mich steht fest: Corona wird starke Verwerfungen hinterlassen. Die Frage ist, wie und mit welchen Formaten man Zusammenarbeit in der Coronazeit organisiert. Das beschäftigt mich. Ich habe schon den Wunsch, trotz nötiger Distanzierung die Bürger zu erreichen.
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Für den Haushaltsentwurf sind wir noch mit großen Fragezeichen unterwegs. In Kurzform: Wir haben beispielsweise mit über 100 Millionen Euro Gewerbesteuer gerechnet und liegen im Moment weit unter 30. Bei der versprochenen Kompensation durch Landes- und Bundesmittel hoffen wir, dass die Größenordnung reicht, um das entsprechend aufzufangen. Die großen Kollateralschäden können wir aktuell noch vermeiden, aber es ist nicht selbstverständlich, dass das so auch für die nächsten Jahre gilt. Es gibt nach wie vor auch kein hinreichendes Vorabstimmungsverfahren mit Land und Bund bei vielen Dingen, wenn es darum geht, welche Aufgaben Kommunen mit welcher Intensität heute, morgen und übermorgen zu erledigen haben. Das hat uns immer wieder ins Dilemma gebracht.
Worauf müssen Sie die Menschen einstimmen?
Ich war ja auch als Kämmerin nie die Zahlenapostelin. Und ich verstehe es weiter als meine Aufgabe, kreativ für wichtige stadtpolitische Vorhaben Mittel zu akquirieren. Aber es braucht auch ein Bewusstsein dafür, was Dinge kosten – an Ressourcen, an Engagement, aber eben auch an Geld. Es wird für mich als Oberbürgermeisterin wie schon als Kämmerin die Aufgabe sein, den Haushalt nicht als Selbstzweck zu betreiben. Es geht um Mut, um Tatkraft und nicht zuletzt um Priorisierung. Darum, das Auge dafür zu haben, was wir schaffen können. Es ist auch Teil einer guten Strategie, die Bevölkerung davon zu überzeugen, in welchem Rahmen wir Dinge tun können und warum wir auch manchmal nicht anders können.
Normalerweise steht nach 100 Tagen die erste Amtsbilanz an. Was wollen Sie bis dahin auf jeden Fall abgehakt haben?
Ich hoffe, dass dann meine Schwerpunktthemen wie der Bildungscampus und berufliche Bildung, aber auch das Projekt Hochschule für öffentliche Verwaltung am Standort Gelsenkirchen mehr Kontur bekommen haben. Dann will ich auch mit der Politik Gespräche darüber führen, dass wir weitere wesentliche existenzielle Themen wie Klimawandel und Integration noch mal deutlich weiter voranbringen.
Das finde ich schon wichtig. Die Bevölkerung hat in so einer krisenhaften Situation nicht nur Angst vor Corona, sondern sie beschäftigt weit mehr. Das darf nicht aus dem Blick geraten.
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