Gelsenkirchen. Die Beteiligung an der Stichwahl in Gelsenkirchen war erschreckend schwach: Die meisten Wähler gingen nicht an die Urne. Was sind die Gründe?

Genau 15,8 Prozent der Stimmen reichten Karin Welge, um zur neuen Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen gewählt zu werden. Auf diese Zahl kommt man, wenn man die Nichtwähler mitzählt: Die machten bei der Stichwahl am Sonntag nämlich den weitaus größten Anteil aus. 188.369 Menschen in der Stadt waren wahlberechtigt, lediglich 50.046 von ihnen machten von diesem Recht Gebrauch, das entspricht einem Anteil von 26,6 Prozent. 73,4 Prozent blieben also daheim. Was sind die Gründe dafür?

Professor Matthias Degen ist Direktor des Instituts für Journalismus und Public Relations an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen, er kann zumindest einige Gründe für die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung nennen. „Zum einen gehen bei einer Stichwahl erfahrungsgemäß immer weniger Leute an die Urne als noch im ersten Wahlgang“, sagt er. Wähler von Parteien, deren Kandidaten es nicht in die zweite Runde geschafft hätten, würden ihre Stimmen keinem der beiden Stichwahlkandidaten geben und lieber daheim bleiben. „Und dann gibt es die Wählerinnen und Wähler, die nicht hingehen, weil sie die Wahl ohnehin für gelaufen halten“, erklärt der Wissenschaftler weiter.

Gelsenkirchen liegt deutlich unter dem Landesschnitt

Prof. Dr. Matthias Degen, Direktor des Instituts für Journalismus und Public Relations an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen.
Prof. Dr. Matthias Degen, Direktor des Instituts für Journalismus und Public Relations an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen. © WH

Dennoch: Allein mit dem Stichwahlfaktor ist es nicht zu erklären, dass vor allem in Gelsenkirchen so viele Menschen darauf verzichten, ihre Stimme abzugeben. Landesweit betrug am Sonntag die Beteiligung an der Stichwahl 36 Prozent – Gelsenkirchen liegt damit deutlich unter dem NRW-Schnitt.

„Das sind auch die Spätfolgen der Frustration über das dauerhafte Abgehängtsein“, analysiert Matthias Degen, „ein Zustand, den viele Jahre SPD-Regierung nicht beenden konnten.“ Gelsenkirchen sei eine der Städte, die besonders hart vom Strukturwandel betroffen seien, vor allem viele der Menschen, die früher zum Stammklientel der SPD gehörten, hätten durch langjährige Arbeitslosigkeit ihr Vertrauen in die Politik verloren. „Die Leute haben sich von den etablierten Parteien abgewendet, weil die ihnen kein Zuhause mehr bieten“, sagt Matthias Degen. Darum falle es diesen Parteien dann immer schwerer, ihre Wähler zu mobilisieren.

Menschen sind oft nicht mehr bereit, sich an eine Partei zu binden

Ein weiterer Grund sei nach Meinung des Wissenschaftlers die noch immer zu kleine Bereitschaft gerade bei den großen Parteien, sich zu öffnen – das schrecke gerade junge Menschen davon ab, sich zu engagieren. „Kleinere Parteien wie die Grünen haben es geschafft, Bewegungen wie etwa Fridays for Future einzubinden“, sagt Degen. „Das ist weder CDU noch SPD gelungen.“ Außerdem sei etwa die SPD in Gelsenkirchen bei Weitem nicht mehr in dem Maße in anderen Vereinen und Verbänden verwurzelt, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war.

„Viele Menschen sind auch heute nicht mehr bereit, sich langfristig an eine Partei zu binden“, erklärt Matthias Degen. Sie suchten vielmehr nach Möglichkeiten, sich kurzfristig für ein ganz bestimmtes Projekt, das ihnen am Herzen liegt, einzusetzen, ohne dafür erst in eine Partei einzutreten.

Matthias Degen fordert eine „Mitmachkultur“

Dort läge auch einer der Lösungsansätze, die Degen vorschlägt. „Parteien müssen sich weiter öffnen, und sie müssen versuchen, Formate zu finden, mit denen man mehr Menschen einbinden kann“, sagt er. „Parteien müssen eine Mitmachkultur entwickeln.“ Lokalpolitiker sollten die Wahl 2020 als Weckruf verstehen, und dabei müsse man sich auch von liebgewordenen Traditionen trennen. „Es reicht eben nicht, darauf zu warten, dass jemand kommt und fragt, ob er im Ortsverein mitmachen darf.“