Gelsenkirchen. Nach 16 Jahren als Gelsenkirchener Oberbürgermeister tritt Frank Baranowski nun ab: So erlebt er den Abschied, alte und neue Herausforderungen.
Ende Oktober endet eine Ära: Frank Baranowski tritt als Gelsenkirchener Oberbürgermeister ab. Mit WAZ-Redakteur Jörn Stender sprach er über Erfolge, Niederlagen, kleine und große Abschiede und warum auch ein Spitzenamt Geduld erfordert.
Auf ihrem Schreibtisch liegen noch zwei Aktenordner und ein paar Unterschriftenmappen, dazu einige Papiere. Das sieht übersichtlich aus. Wie weit sind sie mit dem Ausräumen ihres Büros, und was nehmen Sie mit?
Frank Baranowski: Die Schränke sind ausgeräumt. Einen Schalke-Wimpel, den die Mannschaft von 2004 unterzeichnet hat und den mir Gerd Rehberg damals am ersten Tag nach meinem Amtsantritt mitgebracht hat, hängt schon in meinem Arbeitszimmer. Das Schalke-Trikot aus dem Büro kommt noch mit, auch der Cricketschläger, den mir die Mannschaft geschenkt hat, die sich aus Flüchtlingen in Gelsenkirchen gebildet hat. Das wäre es dann schon. Was die tägliche Arbeit betrifft: Am Ende des Tages habe ich immer gerne alle meine Stapel abgearbeitet gehabt.
Sie erleben ja jetzt jeden Tag einen kleinen Abschied. Mit welchen Gefühlen?
Besonders schwer fällt mir das Abschied nehmen von Mitarbeitern, mit denen ich lange zusammengearbeitet habe. Bei einigen bin ich schon etwas wehmütig geworden. Ich merke, dass dieses Loslassen mich viel Energie kostet. Leichter fällt es mir, ein Stück weit eigene Freiheiten zurückzugewinnen. Und dann bin ich ja auch ein bisschen Jäger und Sammler. Wenn man so ausräumt, kommen viele Erinnerungen hoch. Man liest einige Sachen noch einmal nach und sagt sich: Ach guck mal, das war ja auch alles noch…
Haben Sie einen Fahrplan für das Finale?
Das Tagesgeschehen nimmt keine Rücksicht darauf, dass ich von Samstag auf Sonntag aus dem Amt scheiden werde. Ich habe mich natürlich mit meiner Nachfolgerin Karin Welge zusammengesetzt und die Übergabe besprochen. Die Corona-Pandemie beschäftigt mich auch aktuell und mental seit dem Frühjahr. Vom Krisenstab bekomme ich täglich Einblick in die Lage, seit Ausbruch der Pandemie bemühe ich mich zudem um die Abstimmung mit anderen Städten, damit wir ein Stück weit kommunales Handeln aufeinander abstimmen. Das ist im Großen und Ganzen auch gelungen.
Wie schätzen Sie die Lage ein?
Die Lage ist zweifellos sehr angespannt. Im Moment sind wir dabei, das Personal im Gesundheitsamt weiter zu verstärken, entsprechende Räumlichkeiten werden dafür eingerichtet. Auch die Zahl der Bundeswehrsoldaten, die uns unterstützen sollen, wird weiter verstärkt. Wir sind auf einem ganz guten Weg. Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass das alles auf Kante genäht ist. Ich fürchte, dass die Pandemie insgesamt die Gesellschaft verändern wird. Ich merke das auch persönlich: Ich bin ein Mensch, der gerne Gespräche führt und den direkten Kontakt schätzt. Und ich bin auch jemand, der gerne Hände geschüttelt hat, mit richtig gutem Händedruck. Ich hatte auch den Plan, mich in gewisser Weise und in größerem Rahmen von der Bevölkerung zu verabschieden. Das alles kann nicht stattfinden. Das ist schade, aber geht nicht anders. Es sind halt außergewöhnliche Zeiten.
16 Jahre im Amt – gibt man da als Oberbürgermeister die Verantwortung und auch die „Macht“ gerne ab – und stellt sich so etwas wie Befreiung ein?
Ich würde eher von Einfluss sprechen, nicht von Macht. Klar, der Einfluss wird deutlich geringer werden. Auch wird es weniger Termine und Einladungen geben. Aber mir war immer klar: So ein Amt wird immer nur auf Zeit verliehen. Mit Ende dieser Zeit enden auch die Einflussmöglichkeiten. Ich bin sicher, dass sich mein Leben verändern wird. Aber es ist sicher ein Unterschied, sich das vom Kopf her klarzumachen oder es im Alltag zu erleben. Ich bin gespannt auf diese Phase.
Es gab für Sie ja auch ein politisches Berufsleben vor dem Oberbürgermeister-Amt, als SPD-Landtagsabgeordneter in Düsseldorf. Wo sehen Sie die Unterschiede?
Was sie in Düsseldorf tun oder nicht, nehmen zu Hause direkt nicht wirklich viele Menschen wahr. Das ist als Oberbürgermeister anders, man agiert deutlich unmittelbarer als ein Abgeordneter. Was man hier als Oberbürgermeister initiiert und wofür man vom Rat grünes Licht bekommt, kann man auch selber umsetzen und begegnet dem im Alltag. Im Guten wie im Schlechten.
Wo sehen Sie persönlich Ihre größten Erfolge?
Ich allein? Nie. Das ist immer eine Teamleistung! Der Stadtumbau war einer der großen Schwerpunkte meiner Amtszeit. Ich erinnere mich gut, wie die Domplatte in Buer aussah. Oder der Heinrich-König-Platz. Eines der ersten großen Projekte war Wohnen am Schloss Horst. Sehr erfolgreich ist der Buersche Waldbogen. Die städtebaulichen Narben am Schalker Verein werden beseitigt, es ist ein florierendes Gewerbegebiet entstanden. Dort, aber auch im Quartier Graf Bismarck oder an der Bochumer Straße sieht man, wie lange solche Prozesse dauern. Noch nicht mal ich in meiner langen Amtszeit bekomme es jetzt mit, wenn Heilig Kreuz als Veranstaltungsort eingeweiht wird. Doch solche Erfolge sind das Salz in der Suppe. Stadtumbau erfordert langen Atem und ist nichts für Ungeduldige. Gelsenkirchen ist nichts für Ungeduldige.
Was zählen Sie noch auf der Habenseite?
Bildung und Chancengleichheit waren mir von Anfang an wichtig. Wir haben massiv investiert in Kitas und Schulen, das galt auch ausdrücklich für meinen Vorgänger. Als ich anfing, hatten wir zwei Gruppen im Offenen Ganztag an einer Schule, heute gibt es das Angebot flächendeckend. Schon vor 2004 waren wir nie eine Stadt, die aus dem Vollen schöpfen konnte. Aber für mich galt: Besser auf schlechten Straßen zu guten Schulen als über gute Straße in schlechte Schulen. Etwas ausgeblendet wird immer, wie gut wir im Seniorenbereich aufgestellt sind, mit unseren vielen ZWAR (Zwischen Arbeit und Ruhestand)-Gruppen, mit dem Seniorennetzwerk, mit den Technikbotschaftern. Alles Elemente für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir müssen darauf achten, dass die städtische Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriftet. Wichtig ist der Soziale Arbeitsmarkt. Auch das hat Geduld erfordert. Unter Ministerin von der Leyen haben wir das Projekt angefangen, unter Hubertus Heil konnten wir es endlich umsetzen. In jedem Jahr haben wir zudem im Saldo in Gelsenkirchen 1000 neue Arbeitsplätze geschafft. Die Zahl finde ich schon beachtlich. Klar wünscht man sich angesichts der Arbeitslosenquote, dass es auch immer mehr hätten sein können.
Die weiteren Pluspunkte?
2006 habe ich den KOD, den Kommunalen Ordnungsdienst, vorgeschlagen. Seitdem ist dieses Modell konsequent ausgebaut worden. Die Stärkung des subjektiven Sicherheitsgefühls der Bevölkerung durch uniformierte Präsenz stand bereits bei der Gründung im Mittelpunkt. Nach und nach wurde der KOD weiter ausgebaut. Im Juli dieses Jahres ist er mit zehn weiteren Personen auf insgesamt 45 Einsatzkräfte verstärkt worden und längst ein wesentlicher Baustein für das sichere Zusammenleben in unserer Stadt. Auch das Talentzentrum NRW in Ückendorf erlebt als Einrichtung eine schöne Entwicklung, an der ich ein Stück weit beteiligt war.
Welche Niederlagen hätten Sie gerne vermieden?
Hm, es blieb nur ein Hoffnungsschimmer, dass wir uns als Solarstadt aufstellen können und Solarenergie ein Wirtschaftsfaktor werden könnte, um wegbrechende Industriearbeitsplätze zu ersetzen. Letztlich konnten wir in Gelsenkirchen nicht mit dem chinesischen Markt konkurrieren. Aber man muss schauen, dass man daraus neue Perspektiven schafft. Wandel ist immer. Eine Stadt ist nie fertig.
Die Schließung des Vaillant-Werks war auch schmerzhaft, weil wir alle davon überzeugt waren, dass es alternative Lösungen geben könnte. Besonders in den Knochen hängen geblieben ist mir die Schließung der Schalker Eisenhütte. Da saßen vor mir Männer mit Tränen in den Augen, das hat mir schlaflose Nächte verschafft. Nicht funktioniert hat zum Beispiel auch unsere Bewerbung für das Fußballmuseum oder die gemeinsame Bewerbung mit Herten für das Projekt Innovation City.
Bei Protesten vor den Werkstoren, aber auch bei den Mai-Demos und beim Gedenken an die Pogromnacht 1938 waren sie stets sehr präsent, auch sind Sie oft mit engagierten oder nachdenklichen Reden zu hören gewesen.
Der 1. Mai und der 9. November sind mir immer wichtig gewesen. Das sind zwei Veranstaltungen, die für mich dazu gehören, seit ich politisch denken kann, auch wenn Parteien und Gewerkschaften an Bindungskraft verloren haben. Für mich ist wesentlich, eindeutig Position zu beziehen. Das hatte für mich als Oberbürgermeister eine große Bedeutung, das werden auch für mich wichtige Veranstaltungen bleiben.
Welche Herausforderungen sehen sie aktuell für die Stadt?
An wirklich leichte Zeiten in Gelsenkirchen kann ich mich nicht erinnern. Aber die nächsten Jahre werden wirtschaftlich und finanziell durch die Folgen der Pandemie noch einmal eine besondere Herausforderung. Der Rettungsschirm für 2020 darf nicht das letzte Wort der Bundesregierung sein, es muss eine Anschlussfinanzierung geben. Ich glaube, dass viele Dinge erst ab 2021 durchschlagen. Vor dem, was in den nächsten Jahren auf alle zukommt, habe ich großen Respekt. Gerne hätte ich noch die Arenapark-Entwicklungsgesellschaft auf den Weg gebracht und natürlich, das Wichtigste, den Haushalt. Coronabedingt wird der ganz schwierig.
Wie haben Sie sich im Amt verändert?
Ich glaube nicht, dass ich beispielsweise dünnhäutiger oder viel gelassener geworden bin, aber dass ich mit den Jahren vieles routinierter angegangen bin. Und ich glaube, dass ich in den Ratssitzungen deutlich klarer Haltung zeigen musste, als das früher der Fall war. Es werden dort Dinge gesagt, bei denen ich klar denke: Hier muss jetzt die Stopptaste gedrückt werden. Manche Entwicklungen bewerte ich sicher strenger als früher. Für mich ist es eine Riesenenttäuschung, dass wir beim Thema Zuwanderung nicht wirklich auf Unterstützung und Hilfe setzen können, weder durch den Bund noch durch das Land. Das ist ernüchternd. Die Problemlagen sind mittlerweile so vielschichtig geworden, dass diejenigen, die die Situation beeinflussen könnten, kaum noch Zeit haben, die Dinge zu durchdringen. Und ich stelle fest: Integration und Veränderungen erreicht man nicht nur über gutes Zureden und Angebote, sondern auch über Druck und manchmal mit Zwang.
Ist ein Beruf nach dem Beruf für Sie vorstellbar?
Beruflich gibt es im Moment keinerlei Pläne.
Werden Sie sich irgendwo einmischen, engagieren?
Ich werde z. B. neuer Vorsitzender der Stiftung Musiktheater im Revier, worauf ich mich sehr freue. Der ein oder andere ehrenamtliche Bereich wird sicher noch dazukommen. Parteipolitisch bleibe ich vorerst auch aktiv, ich bin noch bis Anfang 2022 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik im Bund. Ansonsten lasse ich die nächsten Wochen einfach mal auf mich zukommen und bin dankbar für ein selbstbestimmteres Leben.
Bei Ihrer Abschiedsfeier im Musiktheater im Revier war zu hören, dass Sie Italienisch lernen wollen. Warum?
Englisch und Französisch habe ich als Fremdsprachen gelernt. Italienisch hat mich immer fasziniert, auch Florenz. Dort sollte der Kurs sein. Wegen Corona musste ich das verschieben. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Welches Lob würden Sie zum Abschied gerne hören?
Als ich neulich zum Musiktheater gegangen bin, ist mir an der Haltestelle ein sieben oder acht Jahre alter Junge entgegengekommen. Er grinst mich an und sagt: Hallo, Herr Oberbürgermeister. Dass mich ein Siebenjähriger kennt und sogar weiß, was man macht, empfand ich als ganz tolles Lob.
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