Gelsenkirchen. Dirk Sußmann, ehemaliger Chef des Gelsenkirchener Jobcenters, blickt auf Widerstände und Erfolge der Arbeit des IAG.
Dirk Sußmann befindet sich gerade in der Schwebe. Zwischen dem befreienden Gefühl, „mehr Freizeit genießen zu können“ in der passiven Altersteilzeit und „dem durchaus komischen Gefühl“, dass die Geschicke des Jobcenters Gelsenkirchen nun in anderen Händen liegen. Die Gesichter vom Wachmann bis zum Bereichsleiter sind noch ach so vertraut, doch fehlender Dienstparkplatz, -handy und -schlüssel zeugen davon: Nach 42 Jahren, die letzten knapp fünf davon als Geschäftsführer des Gelsenkirchener Jobcenters (IAG), ist Schluss.
Loslassen ist nicht einfach. Insbesondere wenn wichtige Instrumente zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit gefühlt erst nach einer Ewigkeit und vielen Kämpfen zum Einsatz kommen. Da will man deren Wirksamkeit schon genauer und länger verfolgen. „Gern“, so sagt Dirk Sußmann daher im Rückblick von der 14. Etage seiner alten Wirkungsstätte an der Ahstraße über die Stadt, „zu gern hätte ich noch aktiv miterlebt, wie der Soziale Arbeitsmarkt in Gelsenkirchen die 1000er-Marke knackt.“
Sozialer Arbeitsmarkt Gelsenkirchen: 800 Langzeitarbeitslosen einen Job verschafft
Aktuell kommt die Stadt auf eine Quote von 800 langzeitarbeitslosen Menschen, die über diese Art von Jobbrücke wieder Anschluss an ein geregeltes Arbeitsleben gefunden haben. Und das trotz anhaltender Corona-Pandemie. Der 63-Jährige sieht darin ein Indiz dafür, dass der Markt trotz Krise überraschend stabil und das Projekt grundsätzlich richtig aufgestellt ist. Auch wenn die Bereitschaft, Menschen anzustellen, derzeit weniger ausgeprägt sei.
Zur Erinnerung: Beim Sozialen Arbeitsmarkt handelt es sich um zusätzliche sozialversicherungspflichtige und langfristige Arbeitsplätze für langzeitarbeitslose Menschen, die sonst auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben. Arbeitgeber erhalten bei der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen Lohnkostenzuschüsse.
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Bis es allerdings so weit war, hat Dirk Sußmann fast ein Dutzend Bundesarbeitsminister kommen und gehen gesehen, von Wolfgang Clement über Franz Müntefering bis aktuell Hubertus Heil.
Beharrlichkeit ist wohl eines der charakteristischen Merkmale, die Menschen wie Dirk Sußmann ihr Eigen nennen, um die Situation von arbeitslosen Menschen zum Besseren zu verändern. Das hat er 1981 erlebt, als er beim Sozialamt in Buer als Sachbearbeiter für den Bezirk Hassel an vorderster Front anfing und auch später als Leiter der Rechtsstelle im Sozialamt.
Größte Hürde: Den Perspektivwechsel einleiten
Damals, so erinnert sich Sußmann, hat er sich im ständigen Austausch mit Klienten, Juristen und Gerichten mit Fragen beschäftigen müssen wie dieser: „Und zwar, ob ein Hochstuhl für Kleinkinder zum täglichen Lebensbedarf gehört oder nicht.“ Gesetzestexte beschreiben eben nur in groben Zügen die komplexe Lebenswirklichkeit von Menschen. Insofern brauchte es einen langen Atem, um bei Politik wie auch bei der betroffenen Klientel den erhofften Perspektivwechsel einzuleiten.
„Die Menschen abholen, fördern und fordern“, das ist der Wirkungskreis, in dem sich Dirk Sußmann über vier Jahrzehnte bewegt hat. Da ist er seinem Vater übrigens nicht ganz unähnlich, der saß als Betriebs- und später dann als Personaldezernent bei der Stadt auch an einer Nahtstelle zwischen Vorschriften und alltäglichem Leben.
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„60 Prozent der langzeitarbeitslosen Menschen haben beruflich später etwas Anderes gemacht, als sie ursprünglich mal gelernt haben“, sagt Sußmann. Sein Blick richtet sich dabei auf das Best Ager-Bundesprojekt, das er ab 2006 zehn Jahre gesteuert hat und weswegen er sogar im Berliner Arbeitsministerium im Beirat saß. Natürlich steht der Soziale Arbeitsmarkt auch im Fokus. Allein schon altersmäßig gibt es große Schnittmengen. Die Expertise aus Gelsenkirchen war und ist daher gefragt – denn vielen Städten geht es ähnlich.
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Jobcenter Gelsenkirchen: Von anfangs 280 Mitarbeitern auf heute 630
Für den Ruck, ausgetretene Pfade zu verlassen „und das Leben neu zu denken“, ist enorm viel Kraft nötig, so die Erfahrung von Dirk Sußmann und den heute 630 Mitarbeitern des Jobcenters. „Ohne ihr tolles Engagement“, bedankt sich der 63-Jährige, „wären viele Erfolgsgeschichten nicht möglich gewesen“. Angefangen hatte Sußmann 2005 noch mit 280 Kräften.
„Die Frage, ob das Auto für die neue Arbeit des Mannes oder für die Einkäufe der Frau genutzt wird, hat oft schon dazu geführt, dass Betroffene auf ihren Weg zurück in Arbeit angehalten und abgebrochen haben“, berichtet der ehemalige IAG-Chef. Kleinigkeiten zwar, die aber am Ende die eigene Welt bedeuten. Und entscheidend gestalten.
Eine Konsequenz von vielen: Wenn heute arbeitslose Menschen zu einem Gespräch eingeladen werden, dann ist nicht selten der Partner oder die Partnerin auch mit dabei, helfen Job-Coaches, „dem neuen Alltag eine funktionierende Struktur zu geben“. Früher, vor der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Arge, dem späteren Jobcenter, „waren wir eine reine Zahlstelle“.
Berufswunsch: Lehrer werden oder bei der Stadt anfangen
Als junger Mensch wollte Dirk Sußmann entweder bei der Stadtverwaltung arbeiten oder Lehrer werden. Sein Wunschfach war Englisch.
Gelehrt hat der ehemalige Geschäftsführer des Gelsenkirchener Jobcenters dennoch. Und zwar zehn Jahre lang am Studieninstitut Emscher-Lippe. Fach: Sozialrecht.
Nachfolgerin von Dirk Sußmann ist Anke Schürmann-Rupp, sie war zuvor in Mülheim an der Ruhr tätig. Wir stellen sie in der kommenden Woche vor.
Qualifikation von Langzeitarbeitslosen über Online-Unterricht
Die Pandemie fordert vom Gelsenkirchener Jobcenter und seinen Kunden gleichermaßen viel Flexibilität. Homeoffice ist an der Tagesordnung für viele IAG-Mitarbeiter, die Kunden der Einrichtung von Agentur für Arbeit und Stadt lernen aktuell per Online-Unterricht für ihren Neustart ins Berufsleben. Qualifikation, Weiter- und Fortbildung, diese niederschwelligen Angebote von Jobpoint und B-Box haben in Corona-Zeiten ebenso Bestand. Und auch der Umbau des Kolping-Hauses in Rotthausen zum Quartiersbüro, das die Menschen in ihrem Kiez rund um die Karl-Meyer-Straße erreichen soll, schreitet fort. Im Februar soll eröffnet werden. Bei der Eröffnung will Dirk Sußmann natürlich dabei sein, „schauen wie’s ankommt“.
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Und, wie sieht es aus mit Plänen für den Unruhestand? Nun, zum Teil hängen sie noch fest vertäut an einem Hafenkai. „Ich habe alle Bootsführerscheine“, sagt Sußmann, aber der Traum, mit Freunden auf einem gecharterten Schiff von Insel zu Insel im Mittelmeer zu schippern, ist zunächst einmal geplatzt. Für ordentlich frischen Wind sorgen das neue E-Bike, mit dem der langjährige IAG-Mann „nun durch die Lande radelt“ und seit nunmehr sieben Monaten das quietschfidele Enkelsöhnchen Emil.
Ziele im Unruhestand: Bootstrip und Ehrenamt
„Wirklich, ich habe abgeschaltet, ich bin zufrieden“, sagt Dirk Sußmann. Es dürfe jetzt auch mal ruhiger zugehen. Klingt nach einem, der mit sich selbst im Reinen ist. Der aber so ganz wohl doch nicht loslassen kann. Denn der Neu-Ruheständler lässt durchblicken, dass er über ein Ehrenamt nachdenkt. „Ich habe viel Glück erleben dürfen im Leben. Davon möchte ich etwas zurückgeben“, begründet der Schalke-Fan seine Ambitionen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Dirk Sußmann künftig anderen unter die Arme greift, ihren Platz im (Arbeits-)Leben zu finden.
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