Gelsenkirchen-Schalke. Der Stimmbezirk mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in ganz Gelsenkirchen war Schalke-Ost: Auf Spurensuche im Stadtteil am Morgen danach.
Melanie Flöthe zeigt auf einen schwarzen Kleinwagen, der am Seitenrand so ungeschickt abgestellt ist, dass er anderthalb Parkplätze blockiert. „Der steht gefühlt seit drei Jahren da. Wir haben x-mal Bescheid gesagt, aber der wird einfach nicht abgeschleppt“, erzählt die Frau, die seit zwölf Jahren an der Liboriusstraße wohnt. Und sie schiebt mit einem verbitterten Unterton hinterher: „Es passiert gar nix. So wie immer. Ich kenne viele, die hier einfach keinen Bock mehr haben. Auch nicht aufs Wählen.“
Hier, das ist Schalke-Ost. Jener Stadtteil, der bei der Kommunalwahl die geringste Wahlbeteiligung in ganz Gelsenkirchen aufwies. Maue 41,5 Prozent waren es stadtweit, nur 29,9 Prozent hier in jenem Viertel rund um Grillostraße, Breslauer Straße, Königsberger Straße, Münchener Straße und Liebfrauenstraße. 5151 Wahlberechtigte leben im Wahlbezirk 110. Nur 1506 haben ihre Stimmen abgegeben. Also nicht mal ein Drittel.
Gewählter SPD-Kandidat ist entsetzt über die geringe Beteiligung
„Ich bin entsetzt über diese geringe Wahlbeteiligung“, sagt Ralf Hauk. Er ist der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Schalke. Der Wahlbezirk 110 ist seiner. 555 Stimmen entfielen auf ihn. Diese geringe Zahl reichte aus, um mit 37 Prozent seinen Platz im Stadtrat, den er seit 2009 inne hat, zum zweiten Mal zu verteidigen. „Natürlich habe ich mich am Sonntagabend auch ein bisschen gefreut, dass ich wiedergewählt wurde“, erzählt der Sachbearbeiter (60), der sich ehrenamtlich unter anderem bei der Awo engagiert. Aber er sei auch „ein bisschen verzweifelt“ darüber, dass sich so viele Leute von der Politik abgewandt zu haben scheinen.
Forderungen: Illegale Müllentsorgung teurer bestrafen und mehr Polizeipräsenz
„Ich hatte eigentlich auch keine Lust zu wählen und wusste lange gar nicht, wem ich meine Stimme geben sollte“, erzählt Christiane Kirschner, die an einer Bushaltestelle sitzt. Sie lebt seit acht Jahren hier. Sie wünscht sich viel mehr Raser-Kontrollen im Viertel. Und vor allem mehr Polizeipräsenz. „Eine Fußstreife habe ich hier schon Jahre nicht mehr gesehen“, sagt sie. Die Geldstrafen für illegale Müllentsorgung würde sie drastisch erhöhen: „Das ist hier ein echtes Problem.“ Traurig findet sie es, dass vor allem so viele junge Leute nicht wählen gehen. Denn trotz des ganzen Ärgers stellt sie fest: „Nichtwählen bringt ja am Ende auch nichts.“
Eine ältere Dame (81), die namentlich nicht genannt werden will, beklagt sich über das Wildparken im Viertel. „Spricht man die Leute drauf an, reagieren die noch frech“, ärgert sie sich. Seit 56 Jahren wohne sie nun schon hier an der Leipziger Straße. „Hier hat sich alles verändert“, stellt sie fest. Und ihre Tonlage und ihr Kopfschütteln verraten, dass sie keine Veränderung zum Besseren meint.
Mit Bollerwagen auf Wahlkampftour
Leute wie sie wollten SPD-Kandidat Hauk und seine Mitstreiter in diesem von Corona geprägten Wahlkampf auch erreichen. „Die üblichen Besuche an der Haustür waren ja diesmal kaum möglich“, erzählt er. Also kauften sie kurzerhand einen Bollerwagen – natürlich im Feuerrot-Farbton – und zogen los. „Wir waren bis zum allerletzten Tag unterwegs. Und die Rückmeldungen, die wir unterwegs bekommen haben, waren eigentlich viel positiver“, so Hauk. Als er am Abend die erschütternden 29,9 Prozent Wahlbeteiligung im Ergebnistableau entdeckte, sei das wie ein Schlag vor den Kopf gewesen.
Das galt auch für das Ergebnis der AfD. Rund 16 Prozent der Stimmen erhielten die Rechtspopulisten mit ihrer Kandidatin Enxhi Seli-Zacharias in Schalke-Ost. „Eine Katastrophe“, findet Hauk. Er weiß, dass einige frühere Unterstützer der Sozialdemokraten nun AfD wählen. „Aus Protest.“
Das vermutet auch Ingrid Raschke (66). Sie wohnt seit 45 Jahren an der Antoniusstraße. In der direkten Nachbarschaft leben Rumänen und Bulgaren. „Wir versuchen, Kontakt aufzubauen und uns kennen zu lernen. Am besten klappt das über die Kinder. Aber deren Lebensgewohnheiten sind schon anders“, erzählt sie. Vom neuen OB erwartet sie, dass mehr Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden. Denn sonst würden Einheimische und Zugewanderte immer nur weiter aneinander vorbei leben. War sie selbst denn am Sonntag wählen? Da lacht Ingrid Raschke und sagt: „Ich wähle eigentlich immer.“ Eine Haltung, die in Schalke-Ost selten geworden ist.
Resignation und Ärger über die neuen Nachbarn
„Meine Frau und ich waren wählen. Und so weit ich weiß, alle unsere Nachbarn auch“, erzählt ein Anwohner (60), der gerade mit seinem Hund Gassi geht. Als er von der geringen Wahlbeteiligung erfährt, nickt er. „Vielleicht haben hier einige schon resigniert“, vermutet er. Seit 25 Jahren wohnen sie nun in Schalke-Ost. „Die Ausländer früher waren hier in Ordnung“, findet er. Mit den Zugewanderten aus Südosteuropa gebe es hingegen kaum oder gar keinen Kontakt. Dafür aber viel mehr Ärger.
Das sorge bei Anwohnern für Frust. „Vielleicht gehen deshalb einige nicht mehr wählen.“