Gelsenkirchen-Ückendorf. Beim „Places“-Festival in Ückendorf präsentiert die Virtual-Reality-Branche Chancen einer neuen Realität – aber auch deren Gefahren.

Auf dem Vorplatz des Justizzentrums in Gelsenkirchen-Ückendorf sitzen am Samstagnachmittag große Erwachsene in kleinen Kinderattraktionen. Sie ziehen ihre Füße an, um in die gelben Rennautos und auf die roten Rennpferde zu passen. Dabei haben die Erwachsenen Virtual-Reality-Brillen auf dem Kopf und eine Kirmeswelt vor Augen. Oberbürgermeister Frank Baranowski blickt auf die Szenerie des VR-Festivals „Places“ und lacht.

Denn komisch ist es, was sich da für ein Bild auftut. Oder zum Fürchten. Die Digitalisierung hat längst einen festen Platz in den Hosentaschen und der Lebenswelt der Menschen eingenommen. Jetzt kommt durch das Eintauchen in die virtuelle Realität eine weitere Variante hinzu, die mit Siebenmeilenstiefeln technische Fortschritte macht. Und das Potenzial mitbringt, dass sich der Mensch noch weiter von der Natur und dem Planeten entfernt, während dieser zugrunde geht. Einerseits.

Ausgabe drei im September 2021

Ein positives Fazit des VR-Festivals „Places“ zogen die Veranstalter. „Trotz Corona und Regen am Freitag lief es reibungslos. Wir haben knapp 4000 Leute erreicht, die auf der Bochumer Straße oder im Stream dabei waren“, nannte Pressesprecher Roman Milenski am Sonntagnachmittag erste Zahlen.

Über 20 Helferinnen und Helfer hatten von Donnerstag bis Samstag mit angepackt, um das Festival durchzuführen. Und die werden mit großer Wahrscheinlichkeit auch 2021 wieder benötigt, wenn vom 16. bis zum 18. September Ausgabe drei von „Places“ steigt.

„Wir konnten das Festival verstetigen, die Branche schätzt die Veranstaltung in Ückendorf – die Resonanz war positiv“, freut sich Milenski und hebt den Mix an der Bochumer Straße heraus, dass sich Investoren, Experten, Kunden und Interessierte in lockerer Atmosphäre die Klinke in die Hand geben.

Andererseits bietet die VR eine Vielzahl neuer Möglichkeiten, die das Festival eindrucksvoll im Ückendorfer Spannungsfeld zwischen Dönerbuden und Garnelen-Mango-Burritos präsentierte. Für die Wissenschaft. Die Gesundheit. Die Kunst und die Bildung. Um das Leben des Menschen zu verbessern. Vier Beispiele.

VR und die Wissenschaft

Matthias Krentzek sprach im Vorfeld von den Innovationen aus der Garage, die das Silicon Valley weltberühmt gemacht hatten – weshalb der Chef-Organisator Hochschulen und deren kreative Köpfe von Kiel bis Mainz in der Tiefgarage des Wissenschaftsparks zusammenbrachte.

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Dort zeigten die Forscher etwa eine Studie der Uni Siegen, die mit Hilfe von Virtual Reality reflexive und impulsive Prozesse im Gehirn in Einklang bringen will, um der Sucht entgegen zu wirken und das Rauchen abzugewöhnen. Oder die Westfälische Hochschule bei ihrem Heimspiel: Das Projekt eines Masterstudierenden entführte in ein virtuelles afrikanisches Dorf, um für die dortige Lebenswelt zu sensibilisieren und auf Probleme aufmerksam zu machen – fernab von Excel-Tabellen und Zahlenkolonnen.

Beschleunigung im Innovationstunnel: In der Tiefgarage des Wissenschaftspark Gelsenkirchen präsentierten Hochschulen aus ganz Deutschland ihre VR-Anwendungen.
Beschleunigung im Innovationstunnel: In der Tiefgarage des Wissenschaftspark Gelsenkirchen präsentierten Hochschulen aus ganz Deutschland ihre VR-Anwendungen. © Funkemedien NRW | Bastian Rosenkranz

Ein Stockwerk darüber stapelten sich dagegen Pizzakartons und Leergut-Kolonnen: Beim 24-Stunden-Hackathon arbeiteten vier Teams an VR-Prototypen für die „Stadt der Zukunft“. Ansprechpartner Bryan Hempen kurz vor der Ziellinie mit einem Lachen: „Einer der Teilnehmer hat schon acht Mate-Eistee getrunken.“ Am Ende lohnte sich die Arbeit vor allem für die internationale Gruppe „Greenymizer“, die mit Anwendung für klimafreundliche Städte 2500 Euro abräumte. Wie ein Baukasten aufgebaut, lassen sich am virtuellen Reißbrett Gebäude und Grünflächen planen.

VR und die Gesundheit

Eine der wirkungsmächtigsten Erfahrungen des „Places“-Festivals versteckte sich in einer Nebenstraße und ließ sich nur über ramponierte Spahnholzplatten betreten: „Impression Depression“ der Robert-Enke-Stiftung. Die einstündige Erfahrung, bestehend aus Einführung, VR und Reflexion, vermittelte den Besuchern einen Einblick in das Leben eines an Depression erkrankten Menschen wie Torhüter Robert Enke.

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Die Bleiweste zog ebenso nach unten wie die Alltags- beziehungsweise die Leistungsfußballer-Simulation und der Strudel an dunklen Gedanken, mit dem die Besucher konfrontiert wurden. Die bedrückende Erfahrung hellte Projektkoordinator und Sportpsychologe Alexander Hessel in einer Gesprächsrunde wieder auf und vermittelte wichtige Informationen zur Krankheit und zum Umgang mit dieser.

VR und die Kunst

Kunst hat auch den Auftrag, zu provozieren und Denkprozesse in Gang zu bringen. Beides gelang der Künstler-WG des Projekts „Creative_Places“ mit einer Social VR-Performance im „Exodos“: Jeweils drei Besucher gleichzeitig kontrollierten drei Künstlerinnen und Künstler. Diese bekamen per Tastatur Anweisungen auf ihre VR-Brillen und setzten diese in einer virtuellen Umgebung um.

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Dort standen unter anderem Schwerter, Pistolen, Gitarren und Katzen zur Verfügung, was zu einer entsprechenden Bandbreite an positiven wie negativen Anweisungen führte – von Angriffen aufeinander bis zu Heiratsanträgen, vorausgesetzt die Besucher realisierten die ihnen gegebene Macht im Fünf-Minuten-Zeitfenster.

VR und die Bildung

In der Sportbude auf der Munscheidstraße konnten sich Kinder und Eltern austoben. Den Nachwuchs zog es natürlich sofort zu den drei Spiele-Anwendungen: Als Klötzchen-hackendes Pixelgesicht baute der an der virtuellen Welt von „Minecraft“ mit, erlebte und fütterte einen Titanosaurier oder versuchte sich angelehnt an Japanische Game-Shows durch Schablonen zu pressen.

Blick hinter die Kulissen: Aus dem Places-Studio streamten die Veranstalter in die heimischen Wohnzimmer und auf das Festival-Gelände, etwa mit Vorträgen und Preisverleihungen.
Blick hinter die Kulissen: Aus dem Places-Studio streamten die Veranstalter in die heimischen Wohnzimmer und auf das Festival-Gelände, etwa mit Vorträgen und Preisverleihungen. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Wichtiger war in der Turnhalle aber die vierte Station, die sich an die Erziehungsberechtigten richtete – und ihnen niedrigschwellig die VR-Technik näher brachte. Denn: „Es ist falsch, Angst vor der neuen Technik zu haben“, erläuterte Programmiererin Sabrina Chmielewski. Verständnis führe zu Akzeptanz und zum richtigen Umgang. Damit der Nachwuchs den Fußballplatz in Zukunft nicht in Dauerschleife mit aufgesetzter VR-Brille erlebt, sondern auch mit dem Rasen unter den Füßen.

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