Gelsenkirchen-Buer/Winterswijk/NL. In Gelsenkirchen-Buer liegt seit kurzem der Stolperstein des Juden Wolfgang Maas. Dokumente zeichnen seinen Weg zur Liebe und in den Tod nach.

„Er erschrak zu Tode, aber den ersten Kuss von ihm werde ich nie vergessen. Ach, du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich war.“ Mit diesen Sätzen beginnt die niederländische Jüdin Theodora Josephia Windmuller im Dezember 1943 ihren Tagebucheintrag. Gewidmet sind die Worte dem Bueraner Wolfgang Maas, den sie nach über anderthalb Jahren der Trennung wieder in ihren Armen weiß. Zwei weitere Einträge folgen, dann verhaften Polizisten das Liebespaar in ihrem Amsterdamer Versteck. Es ist ihr Todesurteil.

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Mehr als 65 Jahre später: Betty, die ältere Schwester von Thea Windmuller, kommt ins Altersheim – und Tochter Mirjam Schwarz beim Aufräumen in den Besitz eines gut gehüteten Schatzes: den Aufzeichnungen der Tante. Insgesamt fünf Tagebücher haben den Krieg überstanden und sind nach Winterswijk zurückgekehrt, ebenso wie 91 Briefe von Wolfgang Maas an Windmuller. „Ich war überrascht, denn meine Eltern haben nicht darüber geredet. Ein Stück Familiengeschichte, das ich neu kennen gelernt habe – und das immer noch nicht aufgearbeitet ist“, erzählt die 67-jährige Schwarz am Telefon.

Wolfgang Maas kommt 1920 in Buer zur Welt

Mit Hilfe der Dokumente hat Mirjam Schwarz die Geschichte der Geliebten in den vergangenen zehn Jahren nachgezeichnet. Die des Bueraners Wolfgang beginnt am 20. Februar 1920 als Sohn von Hugo und Adele Maas. Er gilt als helles Köpfchen und besucht ab Ostern 1931 das Gymnasium Buer. Es ist der Ort des heutigen Leibniz-Gymnasiums, vor dem seit kurzem der Stolperstein von Maas liegt.

Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 geraten Juden ins Fadenkreuz. Mitschüler und Lehrkräfte beschimpfen und terrorisieren Wolfgang Maas, bis dieser 1934 die Schule verlässt und 1936 in die Niederlande flieht.

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Dort findet Maas eine zweite Heimat. Die jüdische Gemeinde von Winterswijk nimmt ihn auf, er möchte Maler werden – und lernt auf einer Party Thea Windmuller kennen. Es dauert ein Jahr, bis sie ein Paar werden. Thea schreibt am 20. April 1941: „Ich verstehe nicht, was er in mir sieht, er ist wirklich so ein feiner Kerl. Überhaupt nicht leidenschaftlich, richtig jemand, um ihn als Freund zu haben.“

Briefwechsel als Onkel Wim und Tonny

Nach dem Überfall der Nationalsozialisten 1940 ändert sich auch in den Niederlanden das Klima, Repressionen und Deportationen gegenüber der jüdischen Bevölkerung nehmen zu. Windmuller und Maas tauchen deshalb 1942 getrennt voneinander unter, wechseln ständig ihr Versteck – und schreiben sich mit Hilfe von Unterstützern Briefe. Er als Onkel Wim, sie als Tonny.

Schwarz ist auf der Suche nach Bekannten

Mirjam Schwarz, die Cousine der ermordeten Jüdin Thea Windmuller, ist auf der Suche nach Menschen, die Wolfgang Maas und seine Familie gekannt haben – um die Geschichte des Bueraners zu vervollständigen. Sie hat unter anderem auf der Homepage werkgroeplvdo.com veröffentlicht und ist unter erreichbar.

Gesichert ist, dass Mutter Adele und Vater Hugo 1939 nach Brasilien flüchteten, auch Wolfgangs Bruder Herbert überlebte den Naziterror. Darüber hinaus schrieb im Zweiten Weltkrieg eine Tante aus Gelsenkirchen in die Niederlande.

Mirjam Schwarz plant, zur offiziellen Verlegungs-Zeremonie im Herbst aus Winterswijk in den Niederlanden nach Gelsenkirchen zu kommen, vorausgesetzt, das Coronavirus lässt es zu. Ein Termin steht noch nicht fest.

Das Leben in Angst ohne den Anderen an der Seite, es setzt grade Thea Windmuller zu. „Du musst nicht denken, dass ich zu euch kommen wollte, weil ich es einfach nicht mehr aushalten konnte, aber ich weiß, wie niedergeschlagen du manchmal bist, Tonny, und das war der eigentliche Magnet“, übermittelt Wolfgang Maas seiner Freundin am 8. April 1943. Der Anziehung folgt knapp neun Monate später die Verbindung, Anfang Dezember sieht sich das Paar in Amsterdam wieder.

Teil der Wanderausstellung „Warum schreibst du mir nicht“

Was dann passiert, hat Mirjam Schwarz Jahrzehnte später einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ihre Recherche ist Teil der niederländisch-deutschen Wanderausstellung „Warum schreibst du mir nicht“, die sich mit fünf Schicksalen von Verfolgten während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt. Auch ein Filmdokument gibt es, in dem „4-Blocks“- und „Tatort“-Star Rauand Taleb als Mann mit Fluchtgeschichte aus den Briefen des Liebespaares vorliest. Darüber hinaus hat Schwarz ein Buch mit dem Titel „Ik hoop dat alles weer gewoon wordt“ verfasst.

Mirjam Schwarz hat die Geschichte des Liebespaares auch in einem Buch aufgearbeitet.
Mirjam Schwarz hat die Geschichte des Liebespaares auch in einem Buch aufgearbeitet. © Mirjam Schwarz

Darin findet sich auch jener Tagebucheintrag Windmullers vom Dezember 1943, der mit dem Satz endet: „Ach, ich bin so ein komisches Wesen und habe jetzt wieder Angst, dass dieses schöne Leben nicht so lange dauern kann.“ Die Befürchtungen der jungen Frau bewahrheiten sich nur Tage später, als jemand das Versteck des Paares sowie sechs weitere Menschen verrät.

Tod in Auschwitz-Birkenau

Die Amsterdamer Polizei verhaftet Windmuller und Maas Mitte Dezember, interniert sie im Durchgangslager Westerbork. Am 25. Januar 1944 deportieren die Nazis sie nach Auschwitz, wo Thea drei Tage später vergast wird. Wolfgang kommt in den Krankenbau, Akten weisen eine Überstellung am 1. Mai nach Birkenau aus. Ein Wiedergutmachungsverfahren nach dem Krieg, das seine Mutter Adele anstrengt, nennt dagegen den 21. Januar 1944 als Todestag.