Gelsenkirchen. In Gelsenkirchen erinnern 23 neue Stolpersteine an die Verfolgten und Ermordeten des Naziterrors. Das sind ihre Geschichten.

Still war es 2020 um Andreas Jordan, Projektleiter der „Stolpersteine Gelsenkirchen“. Begleiteten ihn in den vergangenen Jahren Schulklassen, Angehörige und Paten beim Verlegen der steingewordenen Erinnerungen an die Verfolgten und Ermordeten des Naziterrors, verhinderte das Coronavirus zuletzt eine feierliche Zeremonie. Dennoch liegen in Gelsenkirchen inzwischen 23 neue Stolpersteine – auf vielfache Bitte.

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Stolperstein-Patin aus Schalke: „Mein Vater war ein Nazi“

Die geplante Verlegung im März, zu der auch Stolpersteine-Künstler Gunter Demnig ins Revier kommen wollte, fegte das Coronavirus hinfort. Demnig setzt seine Arbeit an dem größten dezentralen Mahnmal der Welt, das ebenso an die jüdischen Opfer wie an die von politisch Andersdenkenden, Homosexuellen oder Sinti und Roma erinnert, inzwischen wieder fort. Und auch bei Andreas Jordan standen Mörtel und Kelle nicht still.

23 Stolpersteine an acht Orten in Gelsenkirchen

„Eine Patin und Angehörige wollten Gewissheit, dass ihr Beitrag verlegt wird. Also bin ich in Eigenregie tätig geworden“, erzählt der Projektleiter und fügte dem Stadtbild am 18. April, am 8. Mai (1945 Ende des zweiten Weltkriegs in Europa) sowie am 25. Juni 23 neue Quader hinzu – an acht Orten von Buer bis Bulmke-Hüllen.

Gunter Demnig bei der Arbeit, hier ein verfremdetes Bild von Jochen Schnug.
Gunter Demnig bei der Arbeit, hier ein verfremdetes Bild von Jochen Schnug. © Gedenkhalle Oberhausen | Jürgen Schnug


Möglich machten dies unter anderem die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8/2 von der Gesamtschule Berger Feld unter Leitung der Lehrerinnen Mau und Krause, die die Patenschaft für den Stein von Walter Hes übernahmen. „Sein Schicksal hat uns sehr berührt. Walter war so alt wie wir, als er von den Nazis ermordet wurde. Mit unserem Engagement wollen wir dazu beitragen, dass Walter Hes und die vielen anderen Opfer des Holocausts nicht vergessen werden und so etwas niemals wieder geschieht“, schreiben die Jugendlichen.

Andreas Jordan hofft auf mehr Initiative

Andreas Jordan zeigt sich hocherfreut – und hofft auf weitere Initiative. „Ich würde mir wünschen, dass die Gelsenkirchener das Projekt mehr in den Fokus nehmen. Außerhalb der Stadt ist die Bereitschaft – auch zum Spenden – groß, hier ist sie eher gering“, sagt Jordan.

Eine offizielle Zeremonie möchte der Gelsenkirchener noch in diesem Herbst nachholen, wenn das Coronavirus es zulässt. Für 2021 warten dann 30 weitere Stolpersteine auf ihren neuen Platz – Schluss sein soll damit nicht. Andreas Jordan: „Ich habe mit vielen Überlebenden des Holocaust gesprochen. Das hat mich geprägt und tief berührt. Ich habe versprochen, ihr Anliegen wenn gewünscht weiter zu tragen.“

Die Geschichten der 20 weiteren Menschen im Überblick:


David und Johanna Rabinowitsch sowie Arthur Lewin (Kesselstraße 29, Bulmke-Hüllen): In zweiter Ehe kamen David (1894 geboren in Tiraspol, Ukraine) und Johanna (Jhg. 1896, nach eigenen Angaben Rotterdam) Rabinowitsch zusammen, aus ihrer ersten Verbindung brachte Johanna Sohn Arthur Lewin mit. 1939 zwangen die Nazis die Familie zum Umzug ins „Judenhaus“ an der Von-Scheubner-Richter-Straße 52 (heute Ringstraße), von dort aus deportierte man sie ins lettische Ghetto Riga bzw. ins Konzentrationslager Riga-Kaiserwald. Das Ehepaar verschleppten die Nationalsozialisten im August 1944 – die Rote Armee nahte – ins KZ Stutthof bei Danzig. Dort wurde Johanna ermordet, ihr Mann starb nach Gewaltmärschen im „Auffanglager“ Rybno (Rieben) im Februar 1945. Arthur Lewin dagegen überlebte und wanderte 1948 nach Uruguay aus.


Leopold „Leo“, Auguste und Werner Sauer (Schalker Straße 184, Schalke): Wer auf der Schalker Straße lebt, der kann nur einem Fußballverein anhängen: S04. So war es auch mit „Leo“ Sauer, der ab 1919 in Schalke eine Metzgerei mit 75 Angestellten und einer Filiale an der Bismarckstraße betrieb. Der 1883 in Oedt geborene Metzgermeister war Anhänger und früher Förderer der Königsblauen, so bezahlte er etwa Ernst Kuzorra den Führerschein. Zu einer der Meisterfeiern bemalte er zudem ein Schwein in den Vereinsfarben.

Der Holocaust-Überlebende Werner Sauer sprach 1984 in einem Interview mit dem United States Holocaust Memorial Museum über seine Geschichte.
Der Holocaust-Überlebende Werner Sauer sprach 1984 in einem Interview mit dem United States Holocaust Memorial Museum über seine Geschichte. © United States Holocaust Memorial Museum Collection, Gift of the National Council of Jewish Women Cleveland Section | Screenshot


Als Jude 1933 aus dem Verein ausgeschlossen, erfuhr Sauer mit seiner Familie mehr und mehr Repressionen. Das Geschäft lief schlechter, die Schulden nahmen zu, die Entrechtung gipfelte in der Zwangsversteigerung. 1942 deportierten die Nationalsozialisten die Sauers ins lettische Riga und im Herbst 1944 nach Stutthof. Auguste starb am 14. Dezember 1944, während Leopold im März 1945 in Rybno (Rieben) ermordet wurde. Sohn Werner glückte dagegen die Flucht. Die Rote Armee fand ihn bei polnischen Bauern, er emigrierte 1949 in die USA und starb 1989 in Middlefield/Ohio. Das United States Holocaust Memorial Museum interviewte Werner Sauer 1984, das dreiteilige Video ist auf collections.ushmm.org zu finden.


Hermann, Ida und Herbert Springer (Bergmannstraße 37, Ückendorf): Die jüdische Verkäuferin Ida Lockemann, geboren 1877 in Wattenscheid, heiratete 1913 in zweiter Ehe den nichtjüdischen Zechenschlosser Hermann Springer (Geburt 1887 im schlesischen Hermsdorf). Im eigenen Haus kam 1918 Sohn Herbert zur Welt, den die Eltern katholisch tauften. Die Familie führte ein Schuh- und Lederwarengeschäft – auch nach der Machtergreifung der Nazis.


Durch die Nürnberger Gesetze, die der rassistischen Ideologie eine juristische Grundlage gaben und sie institutionalisierten, galt Hermann als „Halbjude“ und die Verbindung zu Ida als „privilegierte Mischehe“, da weder er noch sein Sohn jüdischen Glaubens waren. Dennoch nahmen die Repressionen zu, trotz Drängen zur Scheidung hielt Hermann an seiner Frau fest. Die starb am 28. April 1945 auch an den Folgen der Verfolgung und Diskriminierung, Vater und Sohn überlebten den Naziterror.


Benjamin Posner, Carola und Hildegard Herz (Vohwinkelstraße 29, weil Nummer 12 nicht mehr existiert, Bulmke-Hüllen): Der Viehhändler Benjamin Posner stirbt als Witwer am 2. März 1940 und wird auf dem jüdischen Friedhof in Ückendorf begraben. Seine Tochter Carola (Jhg. 1897) heiratet den Bochumer Metzger Max Moses Herz, lässt sich aber scheiden – aus der Ehe geht Tochter Hildegard hervor. Diese flieht 1938 nach England, heiratet und beginnt unter dem Namen Budd ein neues Leben, das 101-Jährig in London endet. Mutter Carola dagegen deportieren die Nazis 1942 ins lettische Riga. Dort arbeitet sie unter Zwang im KZ Riga-Kaiserwald, bevor sie ins KZ Stutthof kommt und am 5. Januar 1945 ermordet wird.


Bereits 2012 hatte Künstler Gunter Demnig drei Steine mit dem Namen Posner in Gelsenkirchen verlegt, die ebenfalls zum Zweig der Familie gehörten: Carl, Ella und Lotte.


Walter Hes (Hauptstraße 60, Grillo-Gymnasium, Altstadt): Der 1924 in Mönchengladbach-Rhyedt zur Welt gekommene Walter Hes zieht mit seiner Familie 1929 nach Gelsenkirchen und geht zum damaligen Realgymnasium an der Hauptstraße. Dort nehmen die antisemitischen Attacken zu und er wird drangsaliert, bis er 1935 die Schule verlassen muss. Zusammen mit seinen Eltern wandert Hes nach Amsterdam aus, wo er im Sommer 1942 verhaftet wird. Über das Durchgangslager Westerbork kommt er im Juli nach Auschwitz, wo ihn die Nazis am 17. August 1942 ermorden.


Naphtalie, Recha, Ernst, Eva, Herbert, Gerson, Regina Hess (Ewaldstraße 42, Resse): An der Ewaldstraße in Resse hatte die Familie Hess ihren Lebensmittelpunkt. Vater Naphtali (Jhg. 1875) betrieb dort eine Schuhhandlung, zusammen mit seiner zweiten Frau Recha (geboren 1876) bekam Naphtali die beiden Kinder Ernst und Herbert. Die Nazis deportierten die Eltern 1942 nach Riga, wo sie im November 1943 ermordet wurden. Sohn Ernst heiratete Eva Goldstein, das Ehepaar lebte bis zum Zwangsumzug in das „Judenhaus“ Bahnhofstraße 39 an der Theresienstraße. Ernst und Eva starben 1944 im KZ Stutthof.

Die Stolpersteine der Familie Hess in Resse.
Die Stolpersteine der Familie Hess in Resse. © Projekt Stolpersteine Gelsenkirchen | Andreas Jordan


Herbert Hess lebte ebenfalls zeitweilig an der Ebertstraße und heiratete 1941 Regina Isaak, im „Umschulungslager“ in Bielefeld kam Sohn Gerson im März 1942 zur Welt. Die Familie verschleppten die Nationalsozialisten 1943 nach Auschwitz, wo sie getötet wurden.


Die Informationen stammen aus dem Projekt „Stolpersteine Gelsenkirchen“ als Teil des Gelsenzentrums, dem Portal für Stadt- und Zeitgeschichte.