Gelsenkirchen-Buer. Dr. Gerrit Lautner, Leiter der Gelsenkirchener Kinder- und Jugendklinik plädiert für die Öffnung von Kitas und Grundschulen.

Dr. Gerrit Lautner ist Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendklinik in Gelsenkirchen-Buer. Der 52-jährige Vater von fünf Kindern (ab 16 Jahren aufwärts) ist mit seiner Klinik eingebunden in die aktuelle, groß angelegte Studie der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie. Wir sprachen mit ihm über die ersten Erkenntnisse der Studie und seine Empfehlungen zur bevorstehenden Wiedereröffnung von Kitas und Grundschulen für alle Kinder.

Herr Dr. Lautner, kann man es verantworten, jetzt wieder Schulen und Kitas zu öffnen?

Soweit wir jetzt wissen, geht von den Altersgruppen der Kitakinder und der Grundschulkinder so gut wie keine Gefahr für ihre Altersgenossen aus und auch so gut wie keine Gefahr für Erwachsene. Es gibt ja schon erste Stimmen, die argumentieren, man sollte jetzt nicht noch kurz vor den Ferien öffnen, sondern lieber die Zeit danach vorbereiten. Das ist auch eine pädagogische Frage. Und ich denke, aus pädagogischen Gründen müssten diese Einrichtungen tatsächlich sofort wieder öffnen. Mein Eindruck ist, dass man den Kindern die zwei Monate Schließung jetzt schon anmerkt. Ja, ich finde wir sollten Kitas und Schulen jetzt schnell öffnen.

Woraus ziehen Sie jetzt diese Erkenntnis?

Wir hatten zunächst nur Datenmaterial aus China. Jetzt aber gibt es sehr umfangreiches Material auch aus anderen Ländern, aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Daraus geht hervor: Kinder erkranken seltener an Covid-19 als Erwachsene. Warum, ist nicht klar. Wenn sie erkranken, erkranken sie weniger schwer als Erwachsene. Das heißt, wenn Kinder sich infizieren, gibt es bei ihnen weniger Krankheitssymptome und mildere Krankheitsverläufe. Und, was man von der Grippe her ganz anders kennt: Kinder spielen bei der Ansteckungsgefahr für andere Kinder und auch für Erwachsene eine untergeordnete Rolle. Das ist, was man bisher sagen kann. Alles natürlich unter den Umständen des Lockdown ermittelt.

Prof. Drosten kam zu dem Ergebnis, es könnte gut sein, dass Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Wie passt das zu Ihrer Aussage, dass Kinder eine geringere Gefahr darstellen?

Die Aussage von Prof. Drosten will und kann ich nicht anzweifeln. Aber dass die Virenmenge im Rachen ähnlich groß ist, sagt ja noch nichts direkt darüber aus, wie ansteckend Kinder sind. Ein kleines Kind kann beim Husten etwa nicht so weit husten wie ein Erwachsener. Das heißt, die infektiösen Keime kommen gar nicht raus. Das kennen wir von der Tuberkulose. An Tuberkulose erkrankte Kinder stecken so gut wie nie ihre erwachsenen Familienmitglieder an. Die können nicht so weit husten, dass der Erwachsene die Keime auch in die Lunge bekommt, selbst bei engstem Kontakt mit den Eltern. Das ist eine mögliche Erklärung.

Welche gibt es noch?

Nach den Erkenntnissen der deutschen Studie ist es so, dass sich 90 Prozent der erkrankten Kinder von Erwachsenen angesteckt haben und nicht andersrum. Bei der normalen Grippe ist das ganz anders, da sind Kindertagesstätten wahre Virendrehscheiben. Deshalb haben wir und auch ich selbst anfangs empfohlen, die Kitas zu schließen und Enkel von den Großeltern fernzuhalten. Aber nach heutigem Wissensstand ist es nicht mehr zu vertreten, dass Kinder nicht wieder in Kindergarten oder Grundschule gehen.

Auf welcher Datenbasis beruhen denn die Erkenntnisse der Deutschen Kinderstudie?

Insgesamt waren bis zum 4. Mai 9.657 unter 20-Jährige in Deutschland als Infizierte registriert. Vom 18. März bis zum 4. Mai wurden in der Studie die Daten von 128 mit Covid-19 infizierten Kindern aus 66 Kliniken erfasst, also Kindern, die eine klinische Behandlung benötigten.

Wie war der Verlauf?

16 Patienten (13 Prozent der hospitalisierten) benötigten intensivmedizinische Betreuung. In 85 beteiligten Kinderkliniken -- zu denen auch unsere Klinik gehört -- wurden keine Patienten mit Covid-19 im Kindesalter behandelt. In 38 Prozent der Fälle konnte ein Indexpatient, also die Quelle der Infektion, identifiziert werden, in 85 Prozent waren das die Eltern. Auch eine Studie aus Island bestätigt diese Tendenz. Unter den bekannten Infektionen ist der Anteil von Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahren in Deutschland mit drei Prozent deutlich geringer als ihr Anteil an der Bevölkerung, der bei 13 Prozent liegt. Unter den gemeldeten Fällen aus Kinderkliniken in Deutschland waren vor allem Säuglinge (37 Prozent). Die klinischen Verläufe bei Kindern sind deutlich milder als bei Erwachsenen, die Sterblichkeit deutlich geringer. Das belegen auch Studien aus den USA.

Welche Symptome zeigen Kinder laut der deutschen Studie?

Vor allem Fieber/Allgemeinsymptome (67 Prozent), Infektionen der oberen Atemwege (41 Prozent), Bronchitis und gastrointestinale Symptome (16 und 17 Prozent). Nur 15 Prozent entwickelten eine Lungenentzündung. Bei 17 Prozent der Kinder wurden keine Symptome dokumentiert. Der Geruchs- und Geschmackssinn wurde nicht abgefragt, wohl auch, weil das bei Kleinkindern kaum möglich ist.

Vereinzelt wurden in verschiedenen Ländern Fälle berichtet, in denen Kinder Entzündungssymptome entwickelten, die dem Kawasaki-Syndrom ähnelten, bis hin zu unwiderruflichen Schädigungen der Herzkranzgefäße. Was denken Sie darüber?

Das ist schwer zu beurteilen wegen der geringen Fallzahlen. Es ist ein generelles Problem, dass wir so wenige infizierte Kinder haben. Selbst bei Annahme einer Dunkelziffer von 90 Prozent wären gerade mal nur gut zwei Prozent der Bevölkerung insgesamt infiziert. Und das Kawasaki-Syndrom ist sehr, sehr selten. Ich sehe im Jahr vier Kinder mit Kawasaki bei uns in der Klinik, und wir zählen zu den 25 größten Kinderkliniken der Republik. Wir haben 5000 stationäre Patienten im Jahr. Ob das mit Covid-19 mehr wird, kann man noch gar nicht sagen, zumal wir selbst bisher keinen einzigen Covid-19-Fall hatten. Die Daten zu Kawasaki werden jetzt gesammelt, aber da sind wir ganz am Anfang. Auch unsere Klinik ist aufgefordert, Fälle, die danach aussehen, zu melden.

Welche Rolle können und sollten Tests in Kindertagesstätten und Grundschulen spielen? In welchen Abständen sollte Ihrer Meinung nach wer getestet werden?

Ich bin nicht dafür, alle zu testen, weil das mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Zumal die Testkapazität für engmaschige Routinetests ohnehin nicht ausreichen würde. Wenn es einen Fall gibt in einer Einrichtung oder Schule, also einen Indexpatienten, sollten dessen Kontakte nachverfolgt und diese Personen getestet werden, auch wenn sie keine Symptome zeigen. Wie wenig Routinetests aussagen, zeigen verschiedene Beispiele. In einer Klinik in der Nähe von Heinsberg wurden 800 Menschen getestet, darunter waren laut Test nur zwei Infizierte. Zudem bieten diese Virentests per Rachenabstrich nur Momentaufnahmen. Schon am nächsten Tag kann die Situation eine andere sein.