Duisburg. Dr. Peter Seiffert, Chefarzt der Kinderklinik am St. Johannes Krankenhaus in Duisburg, über den neuen Alltag und Sorgen um den Kinderschutz.
Das Corona-Virus bedeutet schwierige Zeiten für Menschen aller Altersgruppen, besonders Ältere. Kinder scheinen sich zwar weniger anzustecken, doch blicken Experten und auch die Politik in Duisburg besorgt auf die Auswirkungen, die der fehlende Kontakt zu anderen Kindern oder fehlender Unterricht haben werden. Nicht zuletzt wird eine Zunahme von Misshandlungen befürchtet. Wir fragten Dr. Peter Seiffert, Chefarzt der Kinderklinik am St. Johannes Krankenhaus in Hamborn, zu Problemen rund um die Pandemie.
Wie hat sich Corona auf den Alltag in der Kinderklinik ausgewirkt?
Dr. Peter Seiffert: Auch wenn wir momentan noch weniger Kinder behandeln, als wir es gewohnt sind, ist der Alltag in der Kinderklinik für alle Beteiligten schwieriger geworden. Viele Untersuchungen und Therapien, die wir zu Beginn der Corona-Pandemie verschoben haben, lassen sich nicht länger aufschieben. Diese müssen wir nun nach und nach angehen und dabei, der Lage entsprechend, deutlich aufwändiger planen.
Was bedeutet das an zusätzlichen Maßnahmen?
Ein Beispiel: Da Kinder auf Begleitpersonen angewiesen sind, haben wir für die Kinderklinik von Anfang an eng abgesteckte Ausnahmen von dem sonst in Krankenhäusern geltenden Besuchsverbot gemacht. Das erfordert aber auch, dass wir die Begleitpersonen vor jedem Besuch untersuchen und befragen. Diese Untersuchungen führen wir in der Kindernotfallambulanz durch, die wir schon sehr früh strikt von der Aufnahme für erwachsene Patienten getrennt haben, um eine gegenseitige Ansteckung zu verhindern. Um eine Übertragung von Kind zu Kind zu vermeiden, können wir unser Spielzimmer leider nicht wie gewohnt betreiben und investieren viel Zeit und Energie, den Kindern ihren Aufenthalt trotzdem so angenehm wie möglich zu gestalten.
Sind auch bei Ihnen Patienten, die eigentlich dringend behandelt werden müssten, wegen der Angst vor einer Infektion weggeblieben oder zu spät gekommen?
Die Verunsicherung hat dazu geführt, dass momentan deutlich weniger Eltern mit ihren kranken Kindern unsere Kindernotfallambulanz aufsuchen. Und wenn wir Kinder hier sehen, ist die Erkrankung häufig schon weit fortgeschritten. Auch die niedergelassenen Kollegen berichten uns, dass ihre Praxen weniger frequentiert sind und lange, manchmal zu lange, gewartet wird. Deshalb unser Appell: Wenn man zu lange wartet, kann die Corona-Pandemie auch für Menschen zur Gefahr werden, die nicht mit dem Virus infiziert sind. Kontaktieren Sie bitte auch weiterhin Ihren Kinderarzt und kommen Sie im Notfall zu uns.
Inwieweit hat sich die Situation bereits "normalisiert"?
Von einer Normalisierung kann noch lange keine Rede sein. Aber wir merken, dass die meisten Eltern routinierter im Umgang mit der Maskenpflicht und den Abstandsregeln werden und Verständnis haben.
Sind bei Ihnen Kinder wegen Covid-19 behandelt worden? Infizieren sich Kinder tatsächlich weniger oft und verläuft die Krankheit bei ihnen harmloser?
Das neuartige Coronavirus und die Folgen einer Infektion bei Kindern konnten noch nicht abschließend erforscht werden. Um mehr darüber herauszufinden, übermitteln wir, wie viele andere Kinderkliniken, wöchentlich anonymisiert unsere Daten an verschiedene deutsche Fachgesellschaften. Nach allem was wir bislang wissen, kann man davon ausgehen, dass eine Corona-Infektion bei Kindern in der Regel harmloser verläuft als bei Erwachsenen. Vereinzelt wird von Kindern berichtet, bei denen es nach einer durchgemachten Covid-19-Erkrankung zu schweren Entzündungen verschiedener Organe kommt. Glücklicherweise mussten wir hier am Haus bislang noch keine Kinder mit einem schweren Verlauf behandeln.
Wie wirkt sich die angespannte Situation in Familien durch die Isolation aus?
Viele Familien meistern die Situation vorbildlich und nutzen die Zeit, um gemeinsam zu basteln, zu spielen und neue Rituale zu entwickeln. In manchen Familien sieht es aber leider ganz anders aus: Je länger die Isolation andauert und je beengter die Wohnverhältnisse sind, umso angespannter ist in der Regel die Situation. Besonders dramatisch ist sie für Kleinkinder und für Kinder, die einen erhöhten Förderbedarf haben. Wir hatten aber auch schon einen Jugendlichen mit einer Tablettenvergiftung in Behandlung, der bei beengten Wohnverhältnissen und vielen Geschwistern endlich einmal wieder richtig schlafen wollte. Unsere Psychologin hat in diesem Zusammenhang von einem „typischen Corona-Koller“ gesprochen.
Haben sie eine Zunahme von Gewalt gegen Kinder festgestellt? Können Sie etwas über die vermutliche Dunkelziffer sagen?
Schulen, Kindergärten, Kinderärzte oder Jugendämter sehen momentan deutlich weniger Kinder. Trotzdem sind die Zahlen der in unserer Kinderschutzgruppe bekannt gewordenen Fälle von Gewalt gegen Kinder gleich geblieben. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Das tatsächliche Ausmaß wird uns wohl erst in Wochen oder Monaten bewusst werden, wenn die Kinder wieder regelmäßig gesehen werden etwa von aufmerksamen Lehrern, Erzieherinnen, Jugendamtsmitarbeitern und Ärzten. Erst dann wird sich zeigen, ob es zu häufigeren Auffälligkeiten und womöglich auch entsprechend messbarem Anstieg in der Kriminalitätsstatistik kommt.
Können Sie schon die psychischen Folgen der Isolation durch die Schließung von Kitas, Schulen, Spielplätzen und Freizeitangeboten abschätzen?
Kinder sind für eine gesunde Entwicklung auf Kontakt, Förderung, Bewegung und auch die Interaktion mit anderen Kindern angewiesen. Insbesondere für Kleinkinder und Kinder mit besonderem Förderbedarf werden die Folgen gravierend sein.
Gerade Jugendlichen fällt es ja oft schwer, sich an Regeln zu halten. Wie reagieren Eltern richtig auf Verstöße?
Das Wichtigste, und das gilt nicht nur in Zeiten von Corona, ist, mit seinen jugendlichen Kindern in Kontakt zu bleiben, miteinander zu reden und eine Vertrauensbasis zu schaffen. Mit Drohungen und Repressalien erreicht man meistens das Gegenteil von dem, was man bezweckt. Besser ist, eine persönliche Betroffenheit herzustellen und an die Verantwortung zu appellieren, zum Beispiel für Oma und Opa oder chronisch kranken Menschen im engeren Umfeld.
Reichen nach Ihrer Einschätzung die Kinder- und Jugendschutzangebote in Duisburg aus? Was halten Sie vom Vorschlag, zum Beispiel eine Hotline einzurichten, bei der sich Kinder und Jugendliche, die familiäre Gewalt erleben, melden könnten?
Eine Hotline einzurichten, halte ich für eine gute Idee. Es gibt bereits entsprechende Angebote. Schwierig ist immer, sie bei Kindern und Jugendlichen bekannt und präsent zu machen. Die Kriminalstatistik zeigt, dass Kinder- und Jugendschutzangebote noch nicht ausreichen, auch unabhängig von Corona. Aber insbesondere in dieser Ausnahmesituation können das lange Zusammenleben auf engem Raum und durch zusätzlich entstehende Sorgen neues Gewaltpotenzial schaffen. Umso wichtiger wird, wofür wir uns mit dem Verein Riskid stark machen: ein elektronisches Frühwarnsystem im Medizinbereich für Kindesmisshandlung und der engere Austausch von allen im Kinderschutz engagierten Institutionen und Akteuren.
>>>Warnsystem für Kinderschutz
Dr. Peter Seiffert hat an seiner Klinik im vergangenen Jahr 72 Kinderschutz-Fälle behandelt. Er engagiert sich im Verein Riskid, einem in Duisburg gegründeten ärztlichen Kinderschutz-Frühwarnsystem, dem Klinikärzte und niedergelassene Kinder- und Jugendärzte angehören.
In der Riskid-Datenbank werden Verdachtsfälle oder tatsächliche Misshandlungen gespeichert, um etwa das "Doctor-Hopping" zu verhindern, also den häufigen Arztwechsel von Eltern, die ihre Kinder misshandeln.