Gelsenkirchen-Horst. Die Gelsenkirchener Werkstätten für angepasste Arbeit betreuen Menschen, die Unterstützungsbedarf haben. Wie erleben sie die Krise? Ein Besuch.
Mit einem Mal war alles anders - nahezu von einem auf den anderen Tag. Corona ragt in alle Bereiche des Lebens hinein. Ohne Rücksicht. Das spüren auch die Gelsenkirchener Werkstätten für angepasste Arbeit, die ihre Aufgaben schon seit mehreren Wochen so ganz anders leben und erledigen müssen. Wir haben Gruppenleiter Mike Schmies begleitet - und mit ihm seinen Kollegen, Mitarbeiter, in diesen Zeiten vielleicht sogar Schützling, Thorsten Ernzerhoff, getroffen. Ein besonderer Besuch.
Gelsenkirchen: Der ganz normale Arbeitsalltag fehlt in Corona-Zeiten
Thorsten Ernzerhoff lehnt an diesem Morgen schon aus dem Fenster seiner Dachgeschosswohnung, irgendwo in Horst. Er ist, das wird er später noch sagen, nervös, vor dem Treffen mit der Zeitung. Immer, wenn etwas Neues auf ihn zukommt, werde er nervös.
Der 37-Jährige arbeitet erst seit zwei Jahren wieder für die Werkstätten für angepasste Arbeit, die sich an drei Standorten in Gelsenkirchen um über 600 Menschen kümmern, die in irgendener Weise Unterstützungsbedarf haben. An ganz normalen Tagen war er als Teil der Gruppe Mechanik in den Werkstätten eingebunden in einen für ihn ganz normalen Arbeitsalltag.
Home Office auf ganz andere Art und Weise
Seit über einem Monat gilt aber auch in seiner Einrichtung das Betretungsverbot. Home Office, auf eine andere Art und Weise, bestimmt nun den Corona-Alltag des jungen Gelsenkircheners. Ganz konkret: Thorsten Ernzerhoff fertigt nun in kleiner Stückzahl das, was sonst in großen Mengen von den Werkstätten für Kunden in allen Teilen der Wirtschaft produziert wird. "Wie ein normales Industrieunternehmen", erklärt Mike Schmies.
Um die Produktionsausfälle etwas abzufedern, packen er und seine Kollegen, mit an. Bereiten so beispielsweise einen Teil der Schrauben für die spätere Weiterverarbeitung vor. Um die kümmert sich wiederum Thorsten Ernzerhoff auf seinen knapp 40 Quadratmetern Zuhause. Zwischen Möbeln, Fernseher und Kühlschrank. Kein Vergleich zum normalen Arbeitsumfeld in der Werkstätten-Dreherei. Kein Vergleich zu einer Integration durch einen Arbeitstag vor Corona-Zeiten.
Der Tagesrhythmus vieler ist völlig durcheinander
"Wir können die Leute nicht voll beschäftigen", führt Schmies aus. Natürlich: Die Maschinen fehlen. Aber: "Wir bieten Unterstützung an, fahren drei Mal in der Woche zu jedem Einzelnen, schauen, ob alles läuft." Für ein paar der betreuten Menschen ist das wichtiger als für andere. Vor allem die, die alleine leben, trifft es schwerer.
Das ganz große, das vielleicht drängendste Problem dabei: "Der ganze Tagesrhythmus der Menschen, die wir betreuen, ist durcheinander", weiß Mike Schmies. Eines der höchsten Ziele sei derzeit - wie ja eigentlich immer - dass ihnen eine feste Struktur gegeben wird. Dieser Tage unmöglich. "Sie wurden in der Regel mit einem Mittagessen versorgt, auch das ist völlig weggebrochen", betont der Gruppenleiter.
Angst vor einer möglichen Corona-Infektion
Dass er sich manchmal einsam und alleine fühle, sei das eine, sagt Thorsten Ernzerhoff. Dass ihm nun das handwerkliche Arbeiten fehle, das andere. Denn dann ist da noch die Furcht vor einer möglichen Infizierung mit dem Coronavirus. "Ich habe Angst vor Ärzten", gibt der junge Mann zu. Doch er beschäftigt sich auch, irgendwie. Geht ab und zu vor die Tür. Eine Runde um den Block. Dann trainiert er. Oder wartet auf seinen Gruppenleiter, der dieser Tage weit mehr als das ist. Bezugsperson, Freund, Ansprechpartner, Unterstützer.
Und doch: Es zehrt. "Am Anfang war es für uns noch schwierig, die Leute zu erreichen", erzählt der 42-jährige Schmies von der Zeit, als sich gerade alle mit der neuen Corona-Situation arrangieren mussten. Heute ist "fast schon Normalität", wie sie arbeiten, wie sie in Kontakt bleiben. Aber eine Normalität, die so nicht gewollt ist.
Es gibt auch positive Aspekte in der Krise
"Ich sehe heute vieles anders", sagt Mike Schmies an diesem Morgen. Normalerweise habe er nicht so einen engen Kontakt zu den Menschen, die er als Gruppenleiter doch sonst immer montags bis freitags an mehr als acht Stunden pro Tag betreut. Ein positiver Aspekt dieser ganzen Krise sei für ihn, dass er nun die Lebensituation seiner Beschäftigten noch genauer kenne - und dass er so Sachen auch nochmal anders sehe. Thorsten Ernzerhoff will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich bald endlich etwas ändert. Dass er zumindest ein bisschen Alltag und Struktur wieder zurückbekommt.
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