Gelsenkirchen. Die Zahl der Hartz-IV-Bezieher ist in Gelsenkirchen extrem hoch. War die Reform dennoch gut? Ein Gespräch mit Jobcenter-Chef Dirk Sußmann.

Vor 15 Jahren, genau am 1. Januar 2005, ist in Deutschland ein Gesetzt eingeführt worden, an dem sich noch heute die Geister scheiden: die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, das damals vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Hartz IV. War es ein großer Wurf oder doch eher der Wegbereiter für eine wachsende Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft?

Blick auf 15 Jahre Hartz IV in Gelsenkirchen

Klar, dass man da man drauf guckt – besonders in einer Stadt, in der das Thema Arbeitslosigkeit und Armut die Schlagzeilen beherrscht: in Gelsenkirchen. Gerade hier muss also die Frage gestellt werden, ob Hartz IV unterm Strich eigentlich was gebracht hat. Einer, der es am ehesten wissen muss, ist Dirk Sußmann, Leiter des Integrationscenters für Arbeit Gelsenkirchen (Jobcenter IAG). Hier werden die Menschen betreut, die seit mindestens einem Jahr arbeitslos sind – und das sind aktuell über 13.000.

„Das ganze System ist durch Hartz IV wesentlich einfacher geworden“, sagt Sußmann. Er war auch schon bei der Einführung 2005 mit an Bord – damals noch als stellvertretender Leiter. „Außerdem haben wir unbestritten eine niedrigere Arbeitslosigkeit als noch vor 15 Jahren und daran hat Hartz IV seinen Anteil. Davon bin ich überzeugt.“

Was an Hartz IV immer wieder kritisiert wird

Dirk Sußmann, Geschäftsführer des Jobcenters Gelsenkirchen.
Dirk Sußmann, Geschäftsführer des Jobcenters Gelsenkirchen. © FFS | Martin Möller

Doch an der vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführten Arbeitsmarktreform gab und gibt es Kritik. „Der häufigste Punkt ist ja der, dass Menschen, die jahrelang gearbeitet haben und nun mehr als ein Jahr ohne Job sind, genauso gestellt sind wie Menschen, die noch nie gearbeitet haben.“ Sußmann findet aber, dass gerade in diesem Punkt schon einiges nachgebessert wurde. „Früher durfte man ja so gut wie keine Rücklagen haben, noch nicht mal ein Auto besitzen. Das ist heute nicht mehr so streng.“

Wenig anfangen kann Sußmann bis heute mit dem Vorwurf, durch Hartz IV würde bewusst die Statistik schöngerechnet, indem Arbeitslose in meist sinnfreie Weiterbildungsmaßnahmen gesteckt und so nicht gezählt würden. „Erstens haben wir als Jobcenter nicht festgelegt, wie gezählt wird. Zweitens hat keiner unserer Sachbearbeiter irgendwelche Statistiken im Hinterkopf.“ Drittens sei eigentlich das Gegenteil der Fall: „Bei der Einführung von Hartz IV ist die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft auf über fünf Millionen angewachsen, weil da auf einmal auch frühere Sozialhilfebezieher auftauchten, die vorher durchs Raster fielen.“

Mehr Geld für Qualifizierungsmaßnahmen

Auch interessant

Richtig ist, so Sußmann, dass es heute mehr solcher Maßnahmen gibt als früher, weil mehr Geld dafür zur Verfügung steht. 50 Millionen Euro kann allein das Jobcenter in Gelsenkirchen im kommenden Jahr für Fort- und Weiterbildungen ausgeben, darunter auch für Maßnahmen durch das Qualifizierungschancengesetz. Das Prinzip: Ein Arbeitsloser nimmt zunächst einen schlecht bezahlten Job an, bildet sich nebenbei weiter („Dafür muss der Arbeitgeber ihn freistellen“) und qualifiziert sich so für besser bezahlte Jobs.

Apropos Geld: Das größte Problem an der augenblicklichen Situation ist für Sußmann, dass es zu viele Jobs im Niedriglohnsektor gibt. „Verkäuferinnen zum Beispiel verdienen teilweise so wenig, da ist heute schon absehbar, dass es für eine auskömmliche Rente nicht reichen wird.“ Für Sußmann ist das aber kein Hartz-IV-Problem. „Der Mindestlohn hat keinen Effekt, weil er zu niedrig angesetzt wurde.“ Bei zwölf Euro müsse der schon liegen, damit sich Arbeit gegenüber Arbeitslosigkeit in vielen Bereichen wieder lohne.

In Gelsenkirchen ist die Situation besonders schwierig

Auch interessant

Was die Situation in Gelsenkirchen gegenüber dem großen Rest der Republik verschärft, ist die Zuwanderung aus Südosteuropa: Zu den hiesigen Hartz-IV-Beziehern gesellen sich laut Sußmann Monat für Monat 100 neue Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Wieso ausgerechnet Gelsenkirchen? „Hier ist der Wohnraum preiswert und hier leben schon andere. Die haben hier also eine Community.“

Dagegen verblassen die Erfolgsmeldungen auf der anderen Seite. „In diesem Jahr haben wir 8000 Menschen aus Hartz IV in Arbeit gebracht“, so Sußmann. Hinzu kämen 550 Menschen, die über den neu geschaffenen Sozialen Arbeitsmarkt einen sozialversicherungspflichtigen Job gefunden haben.

Die WAZ Gelsenkirchen wird in der Serie „15 Jahre Hartz IV“ in den nächsten Wochen auch andere Akteure fragen, was die Arbeitsmarktreform unterm Strich gebracht hat.

Arbeitslosengeld I und II

In Gelsenkirchen waren zum letzten Monatswechsel 16.448 Menschen arbeitslos gemeldet; die Quote lag bei 12,7 Prozent und damit mehr als zweieinhalb mal so hoch wie der Bundesschnitt (4,8 Prozent). 13.339 Gelsenkirchener werden vom Jobcenter betreut. Sie sind länger als ein Jahr arbeitslos und beziehen damit Arbeitlosengeld II (Hartz IV).

Von der Agentur für Arbeit betreut werden die Menschen, die maximal ein Jahr ohne Job sind. Sie beziehen ein sich am letzten Gehalt orientierendes Arbeitslosengeld I. Das betraf in Gelsenkirchen Ende November 3109 Personen.