Gelsenkirchen. Bundesweit wird der „Lappen“ unbeliebter. In Gelsenkirchen werden hingegen immer mehr Führerscheine ausgestellt. Das ÖPNV-Netz ist in der Kritik.
Der Führerschein ist den Gelsenkirchenern wichtig. In Zeiten, in denen intensivst über Klimaschutz und alternative Mobilitätsformen diskutiert wird, legten zuletzt sogar immer mehr Menschen eine Fahrprüfung ab. So viele, dass Fahrschulen im Stadtgebiet an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Eine Entwicklung entgegen dem bundesweiten Trend.
20,8 Prozent der 18- bis 24-Jährigen hatten laut aktuellem Mobilitätsatlas des Heinrich-Böll-Stiftung 2018 in Deutschland keinen Führerschein – über sechs Prozent mehr als noch 2010. Gerade in Städten verliere der „Lappen“ zusehends an Bedeutung, setzten junge Menschen eher auf öffentliche Verkehrsmittel, so die These der Forscher.
In Gelsenkirchen ist das anders. Bis zum 31. Oktober stellte das Straßenverkehrsamt 4408 neue Führerscheine aus. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2015 waren es 2497. Zwar erfasst die Statistik auch Umschreibungen ausländischer Führerscheine als Erstausstellung, deren Anteil liegt laut Stadtpressestelle aber nur bei rund einem Prozent.
Jugendliche legen Wert auf Bequemlichkeit
Aber wie kommt es, dass die Menschen in einer Großstadt wie Gelsenkirchen so viel Wert aufs Selberfahren legen? „Die Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist oft einfach nicht gut. Die 301 fährt zum Beispiel, wann sie will und einiges ist überhaupt nicht erreichbar“, sagt Alexander Neubert. Der 19-jährige Bueraner studiert an der Westfälischen Hochschule. Weil er noch keinen Führerschein hat, ist er auf Bus und Bahn angewiesen. Das will er aber möglichst bald ändern.
Mit seinen Erfahrungen ist er nicht allein: Fast alle Jugendlichen, die bei einer Umfrage der WAZ nach dem Führerschein gefragt haben, haben die Prüfung schon abgelegt. Auf die Vorteile eines Autos wollen sie nicht mehr verzichten. Gerade zu Randzeiten, also am Wochenenden oder spät abends, sei man in der Stadt ohne Auto oder Motorrad im Nachteil. Außerdem komme man mit dem eigenen Gefährt fast immer deutlich schneller ans Ziel als mit dem ÖPNV, so die vorherrschende Meinung unter den Befragten.
Die Gründe sind unklar
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Wie wichtig jungen Gelsenkirchenern Selbstbestimmung bei der Mobilität ist, merken auch die Fahrschulen in der Stadt. „Exorbitant“ sei die Auslastung der Fahrlehrer in den vergangenen Jahren, sagt Volker Kessler, Betreiber der gleichnamigen Fahrschule. Aber „es kann sich niemand so recht erklären, woher das kommt“, fügt er hinzu.
Denn die Zahl der 17- bis 18-Jährigen ist im Zeitraum von 2015 bis 2019 recht konstant geblieben, wie ein Blick in die Statistiken der Stadt zeigt: Ende 2015 kamen 1686 ins führerscheinfähige Alter, aktuell sind es 1659.
Fahrschüler brauchen oft lange bis zur Prüfung
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Doch nicht nur die steigende Zahl der Anmeldungen für den Schein der Klasse B bringt Kessler an seine Kapazitätsgrenzen. „Viele brauchen extrem lange bis zur Prüfung.“ Er beobachte, dass immer mehr Jugendliche Schwierigkeiten haben, am Steuer selbstständig Entscheidungen zu treffen. Folge: Die Zahl der Fahrstunden steigt und die Dauer der Ausbildung verlängert sich.
Eine Entwicklung, die andere Fahrschulen ebenfalls feststellen. Auf Nachfrage geben einige außerdem an, dass sich öfter ältere Fahrschüler anmelden. Für viele sei der „Lappen“ etwa Voraussetzung, um ihren Beruf ausüben zu können. Sorgen, dass wegen der Debatte um mehr Umweltschutz die Schüler ausbleiben, muss sich hier also augenscheinlich niemand machen.
Umfrage: Haben Sie einen Führerschein?
„Ja. Ich möchte gerne mobil sein und die Anbindung zur Uni ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwierig. Inzwischen kann ich mir nicht mehr vorstellen, keinen Führerschein zu haben. Ich habe mich schon zu sehr an diesen Luxus gewöhnt. Gerade abends ist man aber mit dem Auto einfach besser dran.“ Julia Peranovic, 21.
„Ja. Aber ich habe den eher gemacht, weil man ihn halt macht, nicht, weil ich ihn zwingend brauche. Ich komme gebürtig aus Köln. Da braucht man eigentlich nie ein Auto. Für mein Studium bin ich jetzt aber nach Buer gezogen. Mit der Bahn zu pendeln wäre mir, glaube ich, dann doch zu stressig.“ Guido Reinfurt, 22.
„Ja. Ganz einfach um besser von A nach Z zu kommen. Ich komme ursprünglich aus Velbert, da ist es noch schwieriger, mit dem Bus überall hinzukommen. Ich habe einfach festgestellt, dass mir das auch zu lange dauert. Man ist für die gleiche Strecke viel länger unterwegs und verliert beim Umsteigen zusätzliche Zeit.“ Eda Delica, 19.
„Ja. Für die absolute Mobilität ist das zwingend nötig. In meinem Fall brauche ich allerdings auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Recklinghausen aus mindestens doppelt so lange zur Uni wie mit dem Auto. Wäre die Verbindung besser, wären die Öffentlichen sonst aber vielleicht attraktiver.“ Timo Streider, 26.