Gelsenkirchen-Scholven. CDU-Stadtverordnete Kutzborski wirft der Stadt Untätigkeit in Scholven vor. Kinderarmut, Arbeitslosigkeit und Leerstände minderten Lebensqualität.
Hier Felder, Wiesen und Landwirtschaft, dort Industrie, Luftverschmutzung und Lärm: Dass Gegensätze Scholven prägen, ist nicht neu. Für die Menschen im gutbürgerlichen Bülse nicht und für die Bewohner im weniger wohlhabenden Ortskern nahe dem Marktplatz Im Brömm auch nicht. Nun macht die CDU-Stadtverordnete Monika Kutzborski aber mobil gegen eine Verschärfung der Ungleichheit in Sachen Lebensqualität, wie sie sie sieht – und wirft der Stadt Untätigkeit vor.
„Die Qualität einer Stadt hängt nicht nur an den prestigeträchtigen A-Lagen. Verwaltung und Wirtschaftsförderung müssen sich auch um Randgebiete kümmern, um ein Abdriften oder gar Wegbrechen bestimmter Quartiere zu verhindern. Viele Bürger fühlen sich vernachlässigt und teilweise sogar abgehängt, was sich im nachbarschaftlichen Verhalten und in den Wahlergebnissen der extremen Parteien niederschlägt“, so die Bülserin (64).
„Entscheidungsträger haben sich jahrelang weggeduckt“
„Entscheidungsträger haben sich jahrelang weggeduckt“, erklärt sie bei einem Ortstermin und zeigt auf die Feldhauser Straße: Nur ein Teil der Mehrfamilienhäuser im Besitz eines Wohnungsbauunternehmens sei mit Flüchtlingen bewohnt, die übrigen Wohnungen verwahrlosten vielfach, würden von Drogenabhängigen als Treffpunkt oder Schlafplatz genutzt.
Tatsächlich sind die Spuren von Vandalismus nicht zu übersehen: eingeschlagene, ausgehängte Fenster, teilweise mit Brettern vernagelt, dazu mit Graffiti beschmierte Hauswände. Eine „hohe Arbeitslosenquote mit einer entsprechenden Kinderarmut“ habe vermehrt zu Wohnungsleerständen geführt, dadurch werde weniger in die Immobilien investiert, was wiederum zu mehr Schrottimmobilien führe.
Apotheke nach 30 Jahren geschlossen
Sorgen macht ihr besonders der Marktplatz Im Brömm, einst beliebter Treffpunkt im Quartier, nun geprägt von Leerständen. Die frühere Discounter-Filiale schloss vor Jahren, „die Apotheke wurde vor einigen Monaten nach 30 Jahren aufgegeben, weil der Inhaber offenbar keinen Nachfolger gefunden hat.“ Dies beeinträchtige die Lebensqualität, auch wenn etwa mit Rewe und Gatenbröcker an der Feldhauser Straße die Nahversorgung grundsätzlich gesichert sei.
Ärgerlich findet Monika Kutzborski die „Verwahrlosung von Teilen des Stadtbilds“, weil Gelsendienste öffentliches Grün – etwa an der Feldhauser Straße oder auf dem Marktplatz – nicht ausreichend zurückschneide. „So entsteht der Eindruck, die Menschen seien der Stadt gleichgültig.“ Etliche Anwohner hätten das auch genau so formuliert.
Erschwerend komme ein Gefühl der Unsicherheit im öffentlichen Raum hinzu: „Der Bereich am Brunnen hat sich zu einem Umschlagplatz für Drogen entwickelt. Abends oder spätnachts sitzen dort Jugendliche und trinken.“ Anwohner hätten Beschwerden darüber zumeist aufgegeben. „Wir brauchen Streetworker, die sich um die Jugendlichen kümmern. Denn wenn die Menschen sich im Stadtteil nicht mehr wohl fühlen, nimmt das bürgerschaftliche Engagement ab; Grundprinzipien der Ordnung, Sicherheit und Solidarität gehen verloren“, fürchtet sie noch mehr Protestwähler. Hintergrund: Bei der Europawahl im Mai verzeichnete die AfD mit 20,9 Prozent in Scholven nach Erle-Süd (22,6 Prozent) den höchsten Wert in Gelsenkirchen.
Stadt soll Fördermittel bereitstellen
Dass das befristete sozialraumorientierte Quartiersprojekt des Caritasverbands Ende des Jahres wohl ganz ausläuft, wertet sie als Katastrophe. „Die professionelle Vernetzungsarbeit können Ehrenamtliche nicht leisten. Dann war womöglich alle Arbeit umsonst“, wünscht sie sich Fördermittel von der Stadt. Deshalb habe die CDU in der Bezirksvertretung Nord auch 60.000 Euro für 2020 beantragt. Seitdem die Pfarrei St. Urbanus Pfingsten 2018 die St.-Josef-Kirche geschlossen habe, fehle schließlich auch ein kultureller Treffpunkt.
„Insgesamt leben die Menschen gerne hier, sie schätzen den Zusammenhalt und das nahe Grün. Aber in letzter Zeit kippt die Stimmung.“ Die Stadt stelle Scholven im Vergleich zu anderen Stadtteilen gerne als unauffällig dar, „aber das subjektive Gefühl der Menschen ist ein anderes“. Das gutbürgerliche Bülse ziehe Scholven nach oben. „Das aber verfälscht das Bild.“
Gemeinde-Vertreter malen Situation nicht ganz so schwarz
Auch die Verantwortlichen der Kirchen in Scholven sehen durchaus Schwierigkeiten, wollen die Situation aber nicht ganz so schwarz malen. „Es ist schon bei manchen Bürgern eine Stimmung gegen EU-Ost-Zuwanderer spürbar, auch überhaupt gegenüber Migranten, obwohl kaum welche hier leben“, räumt Diakon Axel Büttner von St. Josef ein. „Es gibt Menschen, die sind empfänglich für vermeintlich einfache Lösungen.“
Das Quartiersprojekt als Förderer bürgerschaftlichen Engagements und Anlaufstelle für Ratsuchende hält er für unverzichtbar. „Ohne eine hauptamtliche Kraft könnten wir als Gemeinde nicht alle Facetten des Lebens im Blick haben.“ Das Projekt habe das Lebensgefühl der Scholvener positiv beeinflusst. „Die Leute haben nun mehr Selbstbewusstsein, weil sie erlebt haben, dass ihr Engagement Früchte trägt.“
„Menschen leben gerne hier, fühlen sich aber womöglich vergessen“
Pfarrer Matthias Siebold (Evangelische Trinitatis-Kirchengemeinde Buer) ist überzeugt, „dass die Menschen gerne hier leben.“ Sie fühlten sich „nicht abgehängt, aber vielleicht vergessen, weil Scholven im Vergleich kein Problemstadtteil ist und deshalb weniger Aufmerksamkeit erhält als etwa Schalke oder Ückendorf.“ „Bedrängende Situationen“ habe er in der Öffentlichkeit noch nicht erlebt. „Das Zusammenleben klappt insgesamt gut.“ Dazu habe auch das Quartiersprojekt beigetragen. „Es wäre für die Scholvener sicher ein gutes Signal, wenn die Stadt zur Fortführung beitragen könnte.“
Vivien Lowin, mit einer halben Stelle Projekt-Leiterin, fürchtet: „Wenn das Projekt ausläuft, fehlt ein Ansprechpartner für Alltagsfragen vor Ort, die Vernetzung im neu gegründeten Kinder- und Jugendkreis würde sicher leiden, und auch mit Anträgen von Fördergeldern für Veranstaltungen wie dem Adventsmärktchen wären Ehrenamtliche überfordert.“
Stadt weist Vorwurf der Untätigkeit zurück
Die Stadt weist den CDU-Vorwurf der Untätigkeit zurück. Auf den Sitzungen des Präventionsrats seien in letzter Zeit immer weniger Beschwerden für den Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) mitgenommen worden, so Stadtsprecher Oliver Schäfer. „Seit 2018 haben wir sechs Objektprüfungen und 60 Hausbesuche durch den KOD und Sprachmittler von Awo bzw. Caritas vorgenommen. Die Grundschule an der Mehringstraße wird mehrmals pro Woche vom KOD kontrolliert, um die Lärmbelästigung durch Jugendliche sowie das Problem von Müllablagerungen in den Griff zu bekommen.“ Gelsendienste sei mit Mülldetektiven im Einsatz und habe neuralgische Punkte wie Dinslakener Straße, Forstweg, Scheideweg und Im Winkel im Blick.
Polizei: Stadtteil ist in Sachen Kriminalität „unauffällig“
Für „unauffällig“ im Vergleich zu anderen Stadtteilen hält die Polizei die Situation der öffentlichen Sicherheit in Scholven, wenngleich aktuelle Zahlen aus 2019 noch nicht vorlägen und auch nicht stadtteilscharf heruntergebrochen würden.
Eine interne Einschätzung bzw. Hochrechnung weise keinen deutlichen Anstieg der Kriminalität auf. Von 2017 auf 2018 sei die Zahl der Gesamtstraftaten demnach leicht zurückgegangen; leicht erhöht habe sich auf niedrigem Niveau die Zahl der Gewalt-, Eigentums- und Betäubungsmitteldelikte sowie der Jugendkriminalität, berichtet Polizeisprecher Christopher Grauwinkel.
Überdies zeige der Blick in den Partizipationsbericht, „dass Scholven insgesamt gut aufgestellt ist“, so Schäfer. Die Sozialgeldquoten lägen in Scholven-Süd mit 23 Prozent deutlich und in Scholven-Nord mit 36 bzw. 39 Prozent etwas unter dem städtischen Durchschnitt. In Scholven-Süd habe weniger als jeder Vierte unter 18 Jahren einen Migrationshintergrund – der stadtweit niedrigste Wert --, in Scholven-Nord liege der Wert mit 50 Prozent unter dem städtischen Durchschnitt (56 Prozent). Nicht zuletzt weise Scholven wegen seiner ländlichen Lage für Gelsenkirchener Verhältnisse die stadtweit besten Umwelt- und Wohnbedingungen auf und zeichne sich durch stabile Nachbarschaften aus.