Gelsenkirchen. Die 93-jährige Gelsenkirchenerin Maria Homann erinnert sich an den Kriegsausbruch 1939. Er nahm ihr den Vater und den Bruder.

Die Gelsenkirchener Familie Termier – Aloys und Paula mit ihren Kindern Maria, und Hermann-Josef – wollten eigentlich eine Woche Urlaub machen bei den Großeltern in einem Dorf bei Höxter. Sie waren gerade drei Tage da, es war der 1. September 1939, da läuteten plötzlich alle Kirchenglocken. Der Vater lief sofort zum Bürgermeister, fragte nach dem Grund. Die Antwort: Es ist Krieg.

Aus der Familienwohnung ins Rathaus umgezogen

Das Lebensmittelgeschäft der Familie Termier im Vittinghof, dessen Eingang damals an der Grillostraße lag. Im Luftschutzkeller des Hauses überlebten Muter und Tochter einen schweren Angriff.
Das Lebensmittelgeschäft der Familie Termier im Vittinghof, dessen Eingang damals an der Grillostraße lag. Im Luftschutzkeller des Hauses überlebten Muter und Tochter einen schweren Angriff. © Funke Foto Services GmbH | Repro: Joachim Kleine-Büning

Vater Aloys verkündete der Familie: Ich muss sofort zurück. Der gelernte Statiker war mittlerweile in Diensten der Stadt, nachdem er den Bau von Hans-Sachs-Haus und der Vittinghoff-Siedlung mitbetreut hatte. Als Hauptmann war er Leiter der technischen Nothilfe. Er wurde gebraucht. In Gelsenkirchen wurde er umgehend eingezogen, zog aus der Familienwohnung in eine Stube mit sechs Kollegen im alten Rathaus am Machensplatz ein. Mutter Paula arbeitete wieder im Lebensmittelladen im Vittinghof, über dem die Familie eine Wohnung bezogen hatte, und füllte als weise Geschäftsfrau umgehend ihr Warenlager mit Haltbarem wie Mehl, Zucker und Öl, um sich und die Kundschaft im Krieg versorgen zu können.

Gedenkstunde Sonntag

Am Sonntag, 1. September, gibt es auf dem Westfriedhof Heßler, Grawenhof 25, ab 14 Uhr eine Gedenkstunde des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit Vize-Landtagspräsidenten Carina Gödecke und Thomas Kutschaty als Vorsitzendem des Landesverbandes im Volksbund.

Zum Luftkrieg über Gelsenkirchen, dessen Bomben anfangs vor allem auf die Hydrierwerke in Scholven und Horst zielten, sowie zum großen Bombenangriff am 6. November 1944 gibt es in der Dokumentationsstätte Gelsenkirchen im Nationalsozialismus, Cranger Str. 323, am Mittwoch, 30. Oktober ab 19 Uhr einen Vortrag von Dr. Ralf Blank aus Hagen.

Maria, damals 13, ging noch zur Schule, zum Lyzeum, dem heutigen Ricarda-Huch-Gymnasium. Damit war allerdings schnell Schluss, als die beiden Mitarbeiterinnen im Laden für die Munitionsproduktion zu Seppelfricke und Wildfang eingezogen wurden. Die Mutter beschloss, dass Maria nun alt genug für die kaufmännische Lehre im eigenen Geschäft war.

Der Vater starb kurz nach ihrem 14. Geburtstag bei der Explosion eines Blindgängers

Der Vater Aloys Termier war Leiter der technischen Nothilfe in Gelsenkirchen. Und kam als solcher schon im Juni 1940 bei einem Einsatz ums Leben.
Der Vater Aloys Termier war Leiter der technischen Nothilfe in Gelsenkirchen. Und kam als solcher schon im Juni 1940 bei einem Einsatz ums Leben. © Funke Foto Services GmbH | Foto: Privat/ Repro: Joachim Kleine-Büning

Und so kam es. Indes wohnte der Vater weiter im Rathaus, organisierte von dort die Entschärfung von Blindgängern und die Nothilfevorsorge. Am 8. Juni 1940, Maria hatte gerade ihren 14. Geburtstag gefeiert, war er zum letzten Mal bei der Familie. „Ich sah meinen Vater, der auf eine Tasse Kaffee zu Besuch gekommen war, nur noch wegfahren“, erinnert sich die heute 93-Jährige. „Meine Mutter erklärte, er habe ganz plötzlich weggemusst, nicht mal den Kaffee ausgetrunken. Eine Entschärfung von Blindgängern an den Erdgasbehältern am Kanal. Um 12.30 Uhr ist er bei uns losgefahren, um 14.30 Uhr war er tot.“ Zerrissen von dem Blindgänger, dessen Zünder wohl die Schüppe eines seiner sechs Kollegen getroffen hatte.

Zahllose Nächte im Luftschutzkeller

Mutter und Tochter arbeiteten weiter im Laden, der große Bruder wurde 1941 mit 18 Jahren eingezogen und kam in die Ukraine, nach Russland und schließlich nach Frankreich. Unterdessen geriet Gelsenkirchen zunehmend unter Beschuss. „In meiner Erinnerung waren wir quasi jede Nacht im Luftschutzkeller. Auch tagsüber gab es natürlich Alarm, immer wieder. Aber ansonsten verbrachte ich die meiste Zeit in unserem Laden im Vittinghoff“, erinnert sie sich. Besonders gut im Gedächtnis blieb ihr jedoch der große Bombenangriff 1944. „Da hatte ich Diphtherie, lag in Quarantäne im Waisenhaus an der Ahstraße, betreut von Nonnen. Als der Fliegeralarm losging und alle in den Keller rannten, musste ich liegen bleiben. Wegen der Medikamente waren meine Glieder völlig steif, ich konnte mich nicht bewegen. Ein französischer Kriegsgefangener blieb bei mir am Bett sitzen“, erinnert sich Maria Homann, wie sie seit ihrer Hochzeit mit Heinz-Herbert Homann heißt.

Bergleute hatten die Decke im Luftschutzkeller gerade erst mit Stempeln verstärkt

Maria Homann, geborene Termier, heute im Esszimmer ihres Elternhauses. Das Haus überstand den Krieg mit relativ erträglichen Blessuren – im Gegensatz zu vielen Nachbarhäusern.
Maria Homann, geborene Termier, heute im Esszimmer ihres Elternhauses. Das Haus überstand den Krieg mit relativ erträglichen Blessuren – im Gegensatz zu vielen Nachbarhäusern. © Sibylle Raudies

Nicht vergessen kann sie auch den letzten großen Angriff auf die Stadt, bei dem die gesamte Altstadt und Schalke in Schutt und Asche gelegt wurden. Auch da waren Mutter und Tochter im Luftschutzkeller am Vittinghoff. Dessen Decke hatten erst eine Woche zuvor einige Bergleute, die Kunden im Laden waren, mit Stempeln verstärkt – die Lebensrettung für sie und sieben weitere Schutzsuchende. „Alles hat gewackelt, die Decke ist richtig abgehoben und wieder runtergeknallt – auf die Stempel. Wenn die nicht gewesen wären – nicht auszudenken. Als wir da rauskamen, waren wir rabenschwarz von Kopf bis Fuß“, erzählt sie kopfschüttelnd und vergisst für wenige Sekunden sogar zu lächeln. Die zwar betagte, aber geistig und körperlich ausgesprochen muntere Dame mit dem ansteckenden Lachen hat sich von den Schicksalsschlägen im Krieg nicht die Lebenslust nehmen lassen. Bis heute nicht. Obwohl auch ihr Bruder, der die Invasion in Frankreich überlebt hatte und von dort zurück nach Stettin geschickt worden war, noch am 23. März 1945, kurz vor Kriegsende, ums Leben kam. Er wurde dort Opfer einer Salve aus einer „Stalinorgel“ russischer Soldaten.

Heute lebt die zweifache Mutter und Großmutter Maria Homann wieder in ihrem Elternhaus an der Dürerstraße, das den Krieg überstand, wenn auch am Ende ohne eine Dachpfanne oder ein Fenster.

184 Luftangriffe, bei den mindestens 3100 Menschen in Gelsenkirchen starben

Gelsenkirchen hatte 1939 rund 320.000 Einwohner, bei Kriegsende waren es noch 150.000. Wir wissen von 10.656 Männern aus Gelsenkirchen, die als Soldaten im Zweiten Weltkrieg starben, 7000 weitere werden bis heute vermisst. Etwa 3100 Menschen kamen in Gelsenkirchen bei Luftangriffen ums Leben, darunter zahlreiche Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.

Zwischen September 1939 und April 1945 gab es hier etwa 2800 Luftalarme und 184 Luftangriffe. Die ersten Bomben auf die Stadt fielen am 20. Mai 1940, die ersten beiden Todesopfer gab es am 28. Mai 1940 beim Luftangriff auf das Hydrierwerk in Scholven.

Schwerster Angriff am 6. November 1944

Der schwerste Angriff traf Gelsenkirchen am 6. November 1944 um 13.25 Uhr. Innerhalb einer Stunde wurden weite Teile der Stadt zwischen Hauptbahnhof und Kanal zerstört. Alle südlichen Stadtteile außer Rotthausen, Ückendorf und der Neustadt wurden schwer getroffen. Etwa 500 Menschen kamen ums Leben. Von Januar bis Anfang April 1945 starben im Bombenhagel in Gelsenkirchen über 600 Menschen.