Gelsenkirchen-Ückendorf. Mechthild Schroeter-Rupieper hat die Familientrauerarbeit gegründet. Im Lavia-Haus trifft sie Menschen mit schwerem Schicksal. Aus Leidenschaft.

Zuerst muss der Engel auf den Türsims. Mechthild Schroeter-Rupieper trägt die graue Figur durch den Flur hinaus und streicht ihr über den Kopf. Jetzt kann jeder, der am Friedhof vorbeikommt, sehen, dass jemand da ist. Im Lavia-Haus, in direkter Nachbarschaft zur Leichenhalle und zum Gräberfeld, spricht die Trauerbegleiterin mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen über den Tod, und vor allem: über das Leben.

Neue Freiheit neben der Kinderbetreuung

27 Jahre ist es her, dass die Frau mit den feuerroten Haaren ihren Job als Leiterin einer Gelsenkirchener Kita aufgab, um sich eigentlich ihrem ersten Sohn zu widmen. „Das war meine Chance“, sagt die 55-Jährige heute im Rückblick. Denn durch die neue Freiheit, von der neben der Kinderbetreuung immer noch genug übrig war, ergaben sich auch neue Möglichkeiten. „Ich habe ja nie nichts gemacht“, erzählt die gelernte Erzieherin. Die junge Mutter wechselte Windeln und besuchte Fortbildungen.

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© funkegrafik nrw | Miriam Fischer

Dabei lag das Thema Trauerbegleitung nicht unbedingt auf der Hand. „Ich komme aus einem Mehrgenerationenhaus, ich habe meinen Opa auf dem Sterbebett gesehen, ich dachte: Umgehen mit Tod und Trauer, das ist doch selbstverständlich, sowas muss man doch nicht lernen.“ Doch Schroeter-Rupieper merkte bald, dass sie falsch lag. „Für Kinder und Jugendlichen, von denen ein Elternteil plötzlich verstorben war, war einfach niemand da. Sie konnten zu niemandem gehen.“ Also belegte die Fachfrau für frühkindliche Erziehung Kurse für Trauerbegleitung, bot in ihrem eigenen Haus Gesprächskreise und Trauergruppen an und stellte schnell fest, dass der Bedarf immer größer wurde. „Ich habe immer mehr Anfragen bekommen – nur wusste keiner, wie ich eigentlich bezahlt werden sollte.“ Denn Angebote wie das ihre hatte es bis dahin nicht gegeben, genauso wenig wie ein öffentliches Budget für Trauerbegleitung.

Klienten sind Kliniken, Behörden, die Kirche, Banken und Universitäten

Ein Vierteljahrhundert später gilt Mechthild Schroeter-Rupieper als Pionierin der Familientrauerarbeit im deutschsprachigen Raum. Mehrmals im Jahr reist sie durch Deutschland, Österreich und die Schweiz und gibt Workshops. Zu ihren Klienten gehören Kliniken, Behörden, Kirchen, Banken und Universitäten. Beim Germanswings-Unglück wurde sie gerufen, um die Hinterbliebenen in Haltern zu betreuen. Inzwischen hat sie mehrere Bücher zum Thema Umgang mit Trauer und Tod geschrieben, ein Bilderbuch für Kinder (aber nicht nur) ist gerade in Arbeit. Einmal pro Semester unterrichtet die gebürtige Gelsenkirchenerin Lehramtsstudenten in einem Kompaktseminar. Von ihrer selbstständigen Tätigkeit kann sie mittlerweile gut leben.

Was der gläubigen Christin allerdings viel wichtiger ist, sind die Menschen, auf die sie in ihren Trauergruppen trifft. „Die Begegnung mit Kindern und Jugendlichen, die einen, manchmal auch beide Elternteile verloren haben, sind ungeheuer intensiv.“ Anna, elf Jahre alt, deren Mama und Papa gestorben sind, „wenn ich diese Kinder frage, ob sie denken, dass es ihnen schlechter ergangen ist als anderen, sagen sie erstaunlicherweise meistens nein“. Für ihre Gruppen, in die auch viele männliche Trauernde kommen, hat sie ein Herz aus Holz entworfen, das aus zwei Teilen besteht und in der Mitte von einem Magneten zusammen gehalten wird. Trennt man beide Herzteile voneinander und stellt sie auf den Kopf, werden daraus zwei Tränen.

Trauern ist ein Talent

„Trauern ist ein Talent, das eigentlich jeder Mensch beherrscht, und das wichtig ist. Wer nicht trauern kann, kann sich auch nicht freuen, und der kann auch nicht lieben“, sagt die Familientrauerbegleiterin. „Leider leben wir in einer Gesellschaft, in denen besonders Jungen und Männern antrainiert wird, ihre Gefühle zu unterdrücken.“ Ihre Arbeit, die auch ihre Leidenschaft ist, macht Mechthild Schroeter-Rupieper deswegen auch für ihre drei Söhne. „Ich möchte, dass sie weinen können, wenn sie trauern. Wer das nicht kann, ist kein ganzer Kerl.“ Sagt es und trägt den Engel wieder ins Haus. Für heute ist Feierabend im Lavia-Haus. Und morgen wird hier wieder gelebt.

17 Trauergruppen

Mechthild Schroeter-Rupieper und ihre zwölf Kolleginnen und Kollegen betreuen zurzeit 17 Trauergruppen jeweils einmal im Monat im Lavia-Haus an der Günnigfelderstraße 88 in Ückendorf. In zwölf Gruppen werden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene angesprochen, in fünf Gruppen treffen sich Erwachsene, die Kinder oder Partner verloren haben. Mehr Informationen gibt es unter www.familientrauerbegleitung.de oder über die Telefonnummer 0209/1702777.