Gelsenkirchen.

Den Gruppenraum in Mechthild Schroeter-Rupiepers Praxis schmücken bunte Bilder und kleine Kunstwerke. An langen Fäden baumeln Fotos von der Decke herab; in einer Ecke steht eine Vase mit frischen Blumen; vor der Fensterfront wehen luftige, weiße Gardinen. Und an der Wand lehnt ein Sarg.

Hier, im Lavia-Institut in Gelsenkirchen-Ückendorf, treffen sich Menschen, die trauern. Um jemanden, der tot ist, oder schwer krank oder auch einfach nur weg. Mechthild Schroeter-Rupieper hilft ihnen dabei. Sie ist Familientrauerbegleiterin. Von Beruf. Mehr noch: aus Berufung.

Lukas war der erste, der kam. Der Sechsjährige wolle nicht reden über den Tod der Mutter, berichtete sein Vater verzweifelt. Obwohl er sich viel Mühe mit dem Kind gebe, den eigenen Kummer verberge, so gut es ginge. Doch Lukas behaupte nur, er sei gar nicht traurig. Ob sie Rat wüsste? Nur zu gern, stellte sich heraus, wollte Lukas mit dem Vater sprechen. Aber er traute sich nicht - aus Sorge, ihm weh zu tun. „Der Papa weint nicht richtig”, verriet der Junge noch beim ersten Treffen. „Aber ich weiß, dass er traurig ist, weil er immer so nasse Augen hat.” Und wenn beim Papa nun tatsächlich Tränen fließen würden, fragte Schroeter-Rupieper, was dann? „Dann würde ich ihn trösten”, sagte Lukas.

Es sind solche Geschichten, die die Trauerbegleiterin erzählt, um zu erklären, warum ihr Beruf sie glücklich macht. Obwohl er nicht ihre erste Wahl war: Die 46-Jährige mit den hennaroten Locken ist gelernte Erzieherin. Wieso sie vor 18 Jahren begann, auf Trauerbegleitung „umzuschulen”? Das hat zu tun mit einem Seminar für Kindergarten-Leiterinnen zum Thema Tod und Trauer. Und mit ihrem Neffen, dem sie einst ein Buch schenken wollte, zum Trost, als seine kleine Schwester starb – und kein passendes fand. „Aber vor allem hat es mit meinem Großvater zu tun”, glaubt die Ückendorferin. Der starb, als sie drei war und die Familie bahrte ihn feierlich in der Küche auf, damit alle in Ruhe Abschied nehmen konnten. Auch sie und ihre vier Geschwister. Was sie als schöne Erinnerung abspeicherte.

Heute jedenfalls ist Mechthild Schroeter-Rupieper als Trauerbegleiterin nicht nur glücklich, sondern auch gefragt. Mehr als 50 Kinder und Jugendliche besuchen ihre Trauergruppen, dazu kommen Gesprächskreise für Erwachsene, Fortbildungen und Vorträge für Lehrer, Ärzte. Hospizler, Polizisten, Seelsorger, Arbeitgeber . . . Sogar in Österreich und Belgien wird die Ückendorferin gebucht.

Für immer anders

Tatsächlich kommen mehr Anfragen, als Schroeter-Rupieper bewältigen kann. „Der Bedarf ist enorm”, sagt sie, „weil es im Umkreis kein vergleichbares Angebot gibt.” Aber soll sie die Lehrerin abwimmeln, die anruft weil ein Schüler sich das Leben genommen hat? Er war 13. Was soll sie der Klasse sagen?

Oder etwa die Ärztin, die sich nach dem Infarkt-Tod ihres Asthma-Patienten meldete? In den Armen seiner Tochter starb der Mann. Und die musste die Mama anrufen: „Ich glaub, der Papa ist tot.”

Oder vielleicht den Vater der siebenjährigen Marie, die sich wochenlang weigerte, die sterbende Mutter im Krankenhaus zu besuchen? Sie fürchtete, dass sie dort im Bett ein Skelett erwartete, vertraute sie der Trauerbegleiterin an.

Aber wie hält man das aus, tagein, tagaus, abends und am Wochenende zu sorgen für tief verletzte, verzweifelte Menschen? „Ich sorge auch für mich”, sagt Mechthild Schroeter-Rupieper ruhig. Ihr Glaube gebe ihr Kraft, der Austausch mit Kollegen; und die Familie natürlich, ein Lagerfeuer mit den vier Kindern, ein Konzertbesuch, eine Städtetour mit dem Mann. „Eigentlich”, sagt die Trauerbegleiterin, „hilft mir die Arbeit sogar, mein Leben besser zu leben. Die stete Auseinandersetzung mit dem Tod zwingt mich, immer wieder zu überdenken: Wo bin ich, wo will ich hin. Und: Krieg ich die Kurve noch?”

Taschentücher übrigens hat die Ückendorferin immer dabei. Aber nie ein Rezept „Richtig Trauern”. Denn das tut jeder anders, sagt sie. Muslime anders als Christen. Männer anders als Frauen. Und Kinder anders als Jugendliche. Jungs, die litten, fühlen sich oft als Loser; Mädchen neigten eher zu psychosomatischen Beschwerden; kleine Kinder hätten viele praktische Fragen („Sind alle Toten blau?“, „Ist der Hals, von einem, der sich aufgehängt hat, ganz lang?“). Ältere grollten im Stillen, würden womöglich aggressiv.

Alle trauern also anders. „Wichtig”, sagt ihre Begleiterin, „ist nur, dass sie es überhaupt tun.” Im Vorwort ihres Buches „Für immer anders“ schreibt sie sogar: „Kinder, die Leid erleben, aber trauern dürfen und dabei Begleitung erfahren, gehen oft als starke Menschen aus dieser Situation hervor.“

Was daher noch nachzutragen wäre: Der hölzerne Sarg an der Wand in ihrer Praxis, der ist bemalt: mit einer leuchtend gelben Sonne.