Gelsenkirchen. . Die Bundestagsabgeordnete Ingrid Remmers hält Fahrverbote für unvermeidbar. Im Interview sagt sie, was für sie Gelsenkirchens großes Problem ist.
Nach vier Jahren Pause ist Ingrid Remmers seit vergangenem Jahr wieder Mitglied des Deutschen Bundestags. WAZ-Redaktionsleiter Steffen Gaux traf die Politikerin der Linken, die in Berlin und Gelsenkirchen arbeitet und in Bochum wohnt, zum Interview.
Frau Remmers, Sie sind im Bundestag ordentliches Mitglied im Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. Gelsenkirchen ist in NRW digitale Modellkommune. Ist sie damit ein Vorbild für andere Städte?
Ingrid Remmers: Ob sie schon ein Vorbild ist, weiß ich nicht, aber sie geht in dem Thema voran, und das halte ich für sehr wichtig.
Und in Sachen Verkehr. Wie bewerten Sie die Situation in Gelsenkirchen? Viele haben das Gefühl, hier von einer Baustelle in die nächste zu fahren.
Das Phänomen gibt es an vielen anderen Stellen auch. Ich wohne ja in Bochum, auch da haben wir viele Probleme damit. Baustellen-Weltmeister ist, glaube ich, Berlin – zumindest gefühlt. Gelsenkirchen hat noch sehr viel in Sachen Verkehr nachzuholen und zu verändern.
Zum Thema Verkehr gehören auch mögliche Diesel-Fahrverbote. In Hamburg und Berlin gibt es welche, Gelsenkirchen ist bedroht.
Im nächsten Monat wird die Klage in Bezug auf mögliche Diesel-Fahrverbote vor dem Gelsenkirchener Verwaltungsgericht verhandelt. Es wird ziemlich sicher Bestand haben vor Gericht. Um das hier nochmal klar zu sagen: Meine Fraktion und ich wollen keine Fahrverbote. Fahrverbote sind aber leider die logische Folge des vollkommenen Versagens der Bundesregierung bei der Luftreinhaltung.
Sehen Sie noch eine Chance, das zu verhindern?
Nein, um das Urteil abzuwenden, ist es leider zu spät. Wir haben ein Abgasproblem in unseren Städten, weil die Bundesregierung die bestehenden Grenzwerte für Stickoxide seit 2010 komplett missachtet und die Autoindustrie systematisch die Schadstoffangaben ihrer Diesel-Fahrzeuge manipuliert hat. Wir wissen aus allen Untersuchungen, dass die effektivste Möglichkeit, um Fahrverbote zu verhindern, die Hardware-Nachrüstung ist. Aber da ist diese Bundesregierung nicht bereit, diesen wichtigen Schritt zu gehen und die Autoindustrie an die Kandare zu nehmen.
Sie sitzen jetzt – mit Unterbrechung – insgesamt fünf Jahre im Bundestag. Wie nah dran ist man von Berlin aus an den Problemen der Menschen in seinem Wahlkreis?
Sehr nah. Bochum ist zwar mein Wohnort, aber hier in Gelsenkirchen mache ich die politische Arbeit. Und wenn man so wie ich hier viel unterwegs ist, sich die Probleme sehr genau anguckt und viel mit Menschen spricht, dann ist das sehr nah.
Was ist Gelsenkirchens größtes Problem?
Die strukturelle Unterfinanzierung ist sicherlich eines der größten Probleme überhaupt. Wir werben ja schon lange dafür, dass eine so verschuldete Stadt wie Gelsenkirchen entschuldet wird – ob nun mit einem Entschuldungsfond oder einem Schuldenschnitt, wie auch immer. Und dann muss es einfach für eine Stadt, die unter einer so hohen Arbeitslosigkeit leidet und so viele soziale Probleme hat, eine entsprechende Grundausstattung in den Finanzen geben. Gelsenkirchen braucht Geld, um wieder handlungsfähig zu werden.
Ist da die Situation als Stärkungspakt-Kommune hilfreich?
Nein, der Schuss geht nach hinten los. Das war aber schon vorher klar. Man hat eine kurzzeitige finanzielle Verbesserung bekommen, zahlt aber anschließend doppelt und dreifach drauf, weil man gezwungen wird, so viel einzukürzen.
Für den kommenden Haushalt fehlen ja knapp 30 Millionen Euro, weil die Stadt auf die hohe Kante gepacktes Geld nicht zum Ausgleich verwenden darf.
Ja, das ist natürlich eine Farce, wenn man die Gelder nicht verwenden darf wegen irgendwelcher Vorschriften. Aber das muss eine Stadt vorher auch wissen und muss dafür sorgen, dass sie andere Wege findet. Diese Sache ist vielleicht auch ein Stückchen hausgemacht.
Gelsenkirchen soll die Stadt mit der schlechtesten Lebensqualität in Deutschland sein. Finden Sie das Ergebnis der vom ZDF in Auftrag gegebenen Prognos-Studie gerechtfertigt?
Es ist sicherlich eine Definitionsfrage, was Lebensqualität ist. Wenn man von Arbeitsplatzsuche ausgeht und anderen Kriterien wie einer hohen Armutsquote und ähnlichen Faktoren, dann ist es sicherlich ein Stückweit richtig. Aber Lebensqualität besteht aus so viel mehr. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen in Gelsenkirchen die Lebensqualität hier sehr viel anders einschätzen. Es gibt viele Kriterien, die eine gute Lebensqualität ausmachen, die man in Gelsenkirchen findet.
Wer kann am ehesten etwas tun, um die Situation in Gelsenkirchen zu verbessern: der Bund, das Land oder die Kommune?
Gelsenkirchen ist als Kommune natürlich an den Problemen am nächsten dran, sieht sie am deutlichsten und hat eine Vorstellung davon, wie man Probleme verändern könnte. Aber die Kommune muss auch dazu in die Lage versetzt werden, um überhaupt etwas zu tun. Im Moment sehe ich nicht allzu viele Handlungsmöglichkeiten, die die Stadt hat. Das heißt, es muss ein Zusammenspiel geben. Wir beschäftigen uns auf Bundesebene ja gerade damit, das Grundgesetz zu ändern, damit der Bund mehr Mittel an die Kommunen geben kann in verschiedenen Bereichen.
Womit wir wieder beim Thema größtes Problem und Geld wären.
Ja, das ist aus meiner Sicht auch eine der elementarsten Fragen, weil man ohne Mittel eben nicht handlungsfähig ist. Was soll eine Stadt tun, wenn sie für alles etwas bezahlen oder zumindest Eigenanteile aufbringen muss, die sie sich nicht leisten kann – trotz aller Förderprogramme.
Gibt es etwas, dass Ihrer Meinung nach in Gelsenkirchen außerordentlich gut läuft?
In dieser schwierigen Situation, gerade mit den vielen sozialen Problemen, habe ich von Anfang an sehr gestaunt, dass Gelsenkirchen eine Stadt ist, wo sehr viele Menschen sehr engagiert dran arbeiten. Das Beispiel schlechthin für mich ist „Warm durch die Nacht“, wo wir ja gerade auch das Sommerfest gefeiert haben. Insgesamt gibt es sehr viele Initiativen, sehr viele Stellen, die sich auch vernetzen, die versuchen, an diesen Problemen etwas zu ändern oder zumindest Linderung zu verschaffen. Das finde ich sehr spannend. Das zeigt ja auch, dass die Hilfsbereitschaft sehr groß ist.
Viele Menschen in dieser Stadt sehen es offenbar so, dass hier einiges schief läuft. Anders sind die guten Wahlergebnisse der AfD nicht zu erklären, oder?
Die Menschen, die die AfD wählen, sind ja sehr unterschiedlich. Natürlich gibt’s auch Rechtsradikale, die sie dann wählen. Dann gibt es ein relativ großes Spektrum an Menschen, die nicht erst seit gestern abgehängt sind, sondern seit Jahrzehnten. Die Stadt kämpft ja auch seit Jahrzehnten um Verbesserungen. Da kann ich es ein Stückweit nachvollziehen, dass man diese Partei aus Protest wählt. Die Wahl der AfD ist natürlich eine vollkommen falsche. Und dann gibt es ein Spektrum an Menschen, denen es gar nicht so schlecht geht, die aber aufgrund der sozialen Veränderungen verunsichert sind. Insofern gibt es auch hier Motive, die AfD aus Protest zu wählen. Ich kann nur immer wieder appellieren: Bitte nicht die AfD wählen, es ist eindeutig die falsche Partei!
Halten Sie die AfD für gefährlich?
Ja, ich halte sie für gefährlich. Die Partei hat in den letzten Jahren einen großen Schwenk nach rechts gemacht. Sie versucht zwar heute an verschiedenen Stellen deutlich zu machen, dass das nicht nur Rechte sind. Aber diese Nähe zu rechtsradikalen Gruppierungen und Organisationen, das ist doch sehr intensiv geworden. Und wenn ich mir angucke, wie die Mitglieder dieser Partei unter diesem Rechtsruck immer mutiger werden und offen drohen, Menschen mit anderen Ansichten als erstes zu bekämpfen, wenn sie an die Macht gekommen sind, dann bekomme ich ehrlich gesagt Angst. Das sind schon viele Anklänge von ’33 und später drin.
Fernab jeglichen Inhalts: Sehen Sie bei der AfD Parallelen zur Vergangenheit Ihrer eigenen Partei? Sie wurden auch von fast allen verteufelt, sind heute fast eine etablierte Partei. Können Sie sich vorstellen, dass die AfD in ein paar Jahren auch „ganz normal“ dazu gehört und möglicherweise Parteien Koalitionen mit ihr eingehen?
Wir haben ja in der CDU schon erste Wortmeldungen, die sich eine Koalition mit der AfD vorstellen können. Aber ich hoffe nicht, dass es dazu kommt. Was mir sehr zu denken gegeben hat, ist unsere Forderung als Linke nach einem Parteienverbot. Wir haben das damals in unserer Entstehungsphase auch erlebt, dass man uns verbieten wollte – allen voran die Junge Union, aber auch aus der CDU und der FDP waren solche Stimmen zu hören. Und deshalb denke ich heute: Nein, wir müssen das mit der AfD ohne Parteienverbot hinbekommen. Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, dagegen anzugehen.
Ist es die Schuld der gefühlten Dauer-GroKo, dass der rechte Rand immer stärker wird?
Ja, das glaube ich schon, weil die Menschen mit der Untätigkeit der Bundesregierung so unzufrieden sind. Es verändert sich ja nichts an den sozialen Problemen. Die GroKo hat ja in den vergangenen Jahren und jetzt immer noch viel Politik gemacht gegen den erklärten Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Die AfD spricht Bauchgefühle an und nimmt sie darüber mit.
Sie regieren mittlerweile in einigen Ländern, im Bund bislang noch nicht. Rot-Rot-Grün schien lange eine rechnerische Option, die die SPD lange ausschloss. Doch zurzeit gäbe es selbst für dieses Dreierbündnis rechnerisch keine Mehrheit. Welche Machtoptionen hat die Linke?
Ich glaube schon, dass es Sinn macht, für eine Mehrheit links der Mitte zu streiten. Wie das nachher möglich sein soll, dass diese Parteien zusammenarbeiten, da wird es sicherlich einiges an Schwierigkeiten geben. Aber wenn ich vor ein paar Tagen Andrea Nahles gehört habe, die die Hartz-Reformen jetzt endlich angehen will, und wenn ich mir das Agieren der SPD innerhalb der GroKo angesichts der schlechten Umfragewerte angucke, dann keimt ja doch wieder so etwas wie Hoffnung auf, dass sich die SPD wieder auf einen sozialdemokratischen Pfad bewegen könnte.
Wobei man dieses Dreierbündnis zurzeit ja nicht Rot-Rot-Grün, sondern eher Grün-Rot-Rot nennen müsste.
Wenn man vermitteln würde, dass es tatsächlich eine Chance für dieses Bündnis gibt, dann würden sich die Wähler vielleicht auch anders entscheiden. Das muss man erst mal abwarten. Wir haben letztes Jahr mit dem Schulz-Hype erlebt, was passieren kann, wie sehr ein Ruck durch die Republik gehen kann.
Was halten Sie von der linken Sammelbewegung „Aufstehen“?
Ich stehe der Bewegung sehr offen gegenüber. Ich glaube, wenn wir alle ein bisschen gelassener im Umgang damit wären – das gelingt in meiner Partei nicht jedem –, dann könnte man die Chancen viel besser herausarbeiten. „Aufstehen“ ist zumindest eine Organisation, die ganz viele Menschen erreicht hat, die nicht in Parteien sind und auch nicht in Parteien arbeiten wollen.