Gelsenkirchen. . Das letzte Kriegsjahr begann für die Gelsenkirchener noch mit der Hoffnung auf bessere Lebensmittelversorgung und vielleicht gar den Sieg.
Eigentlich gab es nicht wirklich viel Grund zur Hoffnung zum Jahreswechsel 1917/18, im letzten Kriegswinter. Es war kalt, es gab viel zu wenig zu essen und viele Frauen mussten mangels Arbeitskräften Schwerstarbeit auf den Zechen leisten.
Nach dem „Steckrübenwinter“ 1916/17, in dem selbst die Kartoffeln knapp waren, war die Versorgungslage in Gelsenkirchen zunächst weiter eskaliert. Gelsenkirchener Frauen waren im Frühjahr in Protestzügen zum Lebensmittelamt marschiert, hatten „Hunger“ skandiert und Brot gefordert. Als ihre Versammlung von Schutzleuten aufgelöst wurde, plünderten sie einen Lebensmittelladen und einen Bäckereiwagen. Ähnliches spielte sich um die Zeit in Buer ab. Auch Bergleute demonstrierten für eine bessere Lebensmittelversorgung. Die erstmals in Ernährungsausschüsse eingebundenen Arbeitervertreter hatten keine wesentliche Verbesserung erreichen können. Die Arbeiter vermuteten Misswirtschaft der Verwaltung; tatsächlich war die Verteilung alles andere als optimal. Der Schwarzhandel blühte, Hamsterfahrten aufs Land nahmen zu.
Wut auf die Landbevölkerung
Trotzdem war die Stimmung in Gelsenkirchen zum Jahreswechsel 1917/18 nicht am Tiefstpunkt. Die etwas bessere Ernte und der Waffenstillstandsvertrag von Rumänien ließen auf eine bessere Nahrungsmittelversorgung hoffen, an der Westfront sah es zum Jahresbeginn noch nicht verheerend aus. Pionier Albert Schossier, der im französischen Cambrais eingesetzt war, schrieb regelmäßig an seine Mutter Maria in Buer. Am Neujahrstag berichtet er von einem fehlgeschlagenen Angriff auf die Engländer, der immerhin ohne Verluste für seine Gruppe endete. Den Jahreswechsel habe man „tüchtig gefeiert, vor Freude über das gesunde Herauskommen aus dem Sturm haben wir uns eine Bowle mit Sekt gebraut“, berichtet er. Noch gab es Hoffnung auf den Sieg.
Förderung auf den 13 Zechen brach im Krieg ein
Indes wurden die ersten ausgebildeten Bergleute von der Front zurückgeholt, um an den 13 fördernden Zechen im Gesamt-Gelsenkirchener Stadtgebiet die Belegschaft zu verstärken. Die Förderung war mangels qualifiziertem Personal eingebrochen. Es war ein vorsichtig hoffnungsvolles Intermezzo mit kurzer Halbwertzeit, bis März 2018.
Wut prägte das Verhältnis der hungernden Gelsenkirchener zur Landbevölkerung. Der Vorwurf: Die Bauern hielten Lebensmittel zurück, um höhere Preise zu erzielen. Tatsächlich belegen Briefe einer Ex-Gelsenkirchenerin, die ins Münsterland gezogen war, an ihre frühere Nachbarin Klara Maaß, dass man „Kohldampf schieben hier nicht kennt“. Die herzliche Abneigung war gegenseitig: Die Landbevölkerung beäugte die scharenweise anreisenden „Leute aus der Industrie“ voller Missfallen und Unbehagen. An sie verkauft wurde dennoch gern, zu stattlichen Preisen.
Drei Pfund Kartoffeln, fünf Pfund Steckrüben je Woche
Indes war in Gelsenkirchen, Buer und Horst fast jeder Dritte auf die Versorgung durch Kriegsküchen angewiesen. Die Riesenkochtöpfe standen im Stadtbad an der heutigen Husemannstraße. Selbstversorgung in der Stadt war unmöglich. Ostpreußen war zuständig für Lebensmittellieferungen, Delegationen warben in Masuren für Gelsenkirchen. Mit mäßigem Erfolg.
Drei Pfund Kartoffeln pro Woche und fünf Pfund Steckrüben waren die Normalration, für Schwerstarbeiter kamen fünf Pfund Kartoffeln dazu – genug war es nie. Immerhin waren in jenen Jahren, in denen noch das Drei-Klassen-Wahlrecht galt, erstmals Arbeiter besser ernährt als Verwaltungsmitarbeiter.
Als der Krieg im November 1918 endlich vorbei war, endete die Hungerära für Gelsenkirchener indes noch lange nicht. Die Blockade der Briten endete erst 1919, der folgende Winter war erneut – ein Steckrübenwinter.
Erforscht und dokumentiert von Daniel Schmidt
>> Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte (ISG) hat die Geschichte des I. Weltkriegs in Gelsenkirchen erforscht. Neben Aufsätzen dazu gab er im Klartext-Verlag ein Buch mit gesammelten Feldpostbriefen heraus: „Bin ich noch gesund und munter“. ISBN 978-3-8375-1285-4.
60 000 Soldaten aus Gelsenkirchen, Horst und Buer
160 000 Menschen lebten 1917 in (Alt-)Gelsenkirchen. Im noch selbstständigen Buer waren es 100 000 und etwa 30 000 in Horst. 60 000 Soldaten wurden aus diesen drei Städten in den Ersten Weltkrieg geschickt. Ab 1918 waren auch junge Männer des Jahrgangs 1900 darunter. Sie zogen allerdings längst ohne den ursprünglichen Enthusiasmus ihrer Väter an die Front.
Die Zechen in der Stadt arbeiteten während des Krieges verstärkt mit Fremdarbeitern, aber auch mit weiblicher Verstärkung in nahezu allen Bereichen. Allein auf Graf Bismarck arbeiteten 1917 zum Jahresende 5600 Einheimische, davon fast 500 Frauen und Mädchen, 1820 angeworbene Russen und Polen sowie 600 Kriegsgefangene. Die Produktivität auf der Zeche sank angesichts der fehlenden Ausbildung eines Großteils der Belegschaft und der körperlich extrem anstrengenden Arbeit bei mäßiger Ernährung.
Preis für Kohle stieg im Krieg rasant
Auf Graf Bismarck etwa listete eine Festschrift einen Einbruch der Förderung im Krieg pro Person und Schicht von 0,9 auf 0,76 Tonnen auf. Allerdings sanken die Einnahmen keineswegs. Dank Krieg war der Preis für die Kohle rasant gestiegen.
Waffen wurden in Gelsenkirchen zwar nicht produziert. Kriegswichtige Ware rollte dennoch von hier an die Front: Grillo-Funke als GHH-Nachfolger war ein großer, wichtiger Produzent von Stacheldraht, der für die Schützengräben gebraucht wurde.