Gelsenkirchen. Am 30. September 1966 schloss die Deutsche Erdöl AG mit Graf Bismarck eine der modernsten Zechen Europas. 6700 Beschäftigte verloren ihre Arbeit.

Explosionen unter Tage: Damit mussten Bergleute rechnen. „Der Knall von Gelsenkirchen“ aber, so eine Zeitung, er traf die Menschen dieser Stadt auf Kohle völlig unvorbereitet: Am 8. Februar 1966 informierte der Betriebsrat der Zeche Graf Bismarck die rund 6700 Kumpel, dass ihr „Paradepütt“, einer der modernsten Europas, zum Herbst des Jahres dicht machen sollte. Am 30. September vor 50 Jahren war Schicht am Schacht – eine „Katastrophe für Gelsenkirchen“, so Prof. Dr. Stefan Goch, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte (ISG).

Förderung war hoch mechanisiert

Was war passiert? In den zwei Jahren zuvor war die Schachtanlage noch für 70 Millionen Mark ausgebaut worden; durch die flache, mächtige Lagerung der Kohlenflöze war die Förderung überdurchschnittlich mechanisiert, unter wie über Tage: „Auf Bismarck musste kein Kumpel laufen. Da sind wir mit der Rolltreppe rauf, fertig. Die ist von der Kaue bis zum Schacht gerollt“, erinnerte sich der Erler Ex-Bergmann Klaus Röschmann in den 1990-ern. Entsprechend hoch waren die jährlichen Produktionsmengen an Kohle (2,6 Millionen Tonnen) und Koks (740 000 Tonnen). Warum dann die Schließung?

DEA kassierte Stilllegungsprämie

Die offizielle Begründung der Konzernleitung: Graf Bismarck sei mit 90 Millionen Mark bei der Muttergesellschaft Deutsche Erdöl AG (DEA) verschuldet und wirtschaftlich nicht mehr tragbar. Für Historiker Karl Lauschke nur ein vorgeschobenes Argument angesichts der Gewinne (1964: über zehn Millionen Mark; im Juni 1965: 3,8 Millionen Mark). Tatsächlich „muss(te) Bismarck sterben, weil die DEA mit Hilfe der Stilllegungsgewinne verstärkt ins Ölgeschäft einsteigen“ wollte, brachte ein Betriebsrat 1966 die wahren Gründe auf den Punkt.

Jene Stilllegungsprämien hatte die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Bergbaukrise beschlossen: Importkohle und Mineralöl – beide deutlich günstiger – hatten dem heimischen schwarzen Gold mittlerweile den Rang abgelaufen, die Berge an subventionierter Kohle wuchsen. Gelsenkirchen reagierte entsetzt auf die Nachricht vom geplanten Aus. Graf Bismarck war der größte Arbeitgeber der Stadt, die Schließung bedrohte direkt oder indirekt etwa 40 000 Arbeitsplätze, schätzt Historiker Lauschke. „1945 gefragt, 1966 verjagt“, „Denkt an die Frauen und Kinder“, „Die Angst an der Ruhr“ titelten die Zeitungen.

20 000 Menschen bei Protestmarsch

Mit einer denkwürdigen Protestaktion am 19. Februar in der Schauburg in Buer und einem Marsch zum Erler Marktplatz versuchte der Betriebsrat, das Ruder noch einmal herumzureißen. Mit schwarzen Fahnen zogen die Kumpel über die Cranger Straße, ernst und schweigend – „ein Marsch der Hoffnungslosigkeit“, „eine der traurigsten Beerdigungen, die ich jemals mitgemacht habe“, beschrieb Ruhrgebiets-Literat und Ex-Hauer Josef Büscher die gespenstische Atmosphäre.

20 000 Menschen folgten dem Aufruf, Handwerker ebenso wie Ärzte, Geistliche, Geschäftsleute und Politiker. Gebracht hat es (fast) nichts. Die DEA erklärte sich lediglich bereit, doch noch einen Sozialplan auszuhandeln. Darin enthalten waren Abfindungen, ein Wohnrecht in Werkswohnungen und eine Werksrente für über 44-Jährige.

„Die Bergleute mussten bis zur letzten Schicht alles geben, da die Höhe der Stilllegungsprämie von der Fördermenge abhängig war. Das war für sie besonders bitter. Sie fühlten sich betrogen und ausgenutzt“, erinnert sich der Erler Heimatforscher Hubert Kurowski. Sein Vater, damals 49, arbeitete als Schmied über Tage und fand wegen seines Alters nur mit Schwierigkeiten einen Anschlussjob auf Consol.

© ISG

Nicht alle Kumpel kamen auf anderen Zechen unter oder konnten zu Opel nach Bochum wechseln. Hochspezialisiert wie sie waren, mussten viele umschulen und sich mit anspruchsloseren, schlechter bezahlten Jobs abfinden. „Das Problem war nicht so sehr die – natürlich erhöhte – Arbeitslosigkeit, weil die meisten doch irgendwo unterkamen; sondern dass die Stadt rapide Bergbaubeschäftigte und damit Bevölkerung verlor“, so ISG-Leiter Goch. Die Folge: Umsätze im Handel gingen zurück, die Wirtschaftskraft der Stadt wurde geschwächt.

Während die DEA über 120 Millionen Mark Stilllegungsprämie kassierte, gewährte sie den Bergleuten am Tag ihrer Kündigung ein „Handgeld“ von zehn Mark für den Umtrunk nach der letzten Schicht – ein Hohn für viele in ihrer Zukunftsangst. Graf Bismarck war mehr als die wirtschaftliche Grundlage Tausender Familien. Sie war auch emotionaler Bezugspunkt, eine „Landmarke auf dem mentalen Stadtplan der Gelsenkirchener“, so ISG-Historiker Dr. Daniel Schmidt.

So war es am Ende der soziale Zusammenhalt, der durch das Aus von Bismarck regelrecht gesprengt wurde.

Als Bundeswirtschaftsminister Erhard in Buer explodierte

Der „Knall von Gelsenkirchen“ hallte nicht nur im Kohlerevier, sondern bundesweit wider – und trug letztlich 1969 zum Kanzlerwechsel in Bonn bei.

Als Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard am 6. Juli 1966 auf dem Marktplatz in Buer eine Rede hielt, um den damaligen NRW-Ministerpräsidenten Franz Meyers im Wahlkampf zu unterstützen, gingen seine Worte im Pfeifkonzert „Buh“ rufender Bürger unter. Sie schwenkten Plakate mit dem Slogan „Erhard weg, Brandt an Deck!“

Angesichts von Beleidigungen wie „Hau ab, vollgefressener Fettsack!“ verlor Erhard die Beherrschung und beschimpfte die linke Jugendorganisation Die Falken als „Lümmel“ und „Uhuhs“. „Noch nie zuvor habe ich so viel Dummheit, Frechheit und Gemeinheit auf einen Haufen gesehen“, vergraulte er reihenweise die potenziellen Wähler, bei denen die CDU ohnehin schon „durch ihr schlechtes Krisenmanagement im Bereich der Montanindustrie in Ungnade gefallen war“, so Historiker Benjamin Rudolf.Da Erhard selbst Kanzler-Ambitionen verfolgte, galt ihm die NRW-Landtagswahl als Test – den er allerdings haushoch verlor.

Mit 49,5 Prozent zog die SPD erstmals an der mit 42,8 Prozent deklassierten CDU vorbei und verfehlte nur knapp die absolute Mehrheit. Der Sieg war der Auftakt für eine Reihe weiterer Wahlsiege unter dem neuen NRW-Ministerpräsidenten Heinz Kühn, die 1969 schließlich in den Kanzlerwechsel zu Willy Brandt gipfelten.