Gelsenkirchen. Der SPD-Chef nahm sich am Montag Zeit. Vor der Bürgerdiskussion stand ein Rundgang über die Bochumer Straße.
Ein Parteichef auf Tournee, ein Vizekanzler mit dem Ohr an der Basis: Drei Stunden lang hält sich Sigmar Gabriel am Montag in Gelsenkirchen auf. Genauer gesagt in Ückendorf.
Überpünktlich steigt er am Wissenschaftspark aus der Limousine. Braungebrannt, aufmerksam, ohne Berührungsängste nimmt er sich zunächst Zeit für eine Gang über die Bochumer Straße. Das Sorgenkind der Stadt. Ehemals Prachtstraße, heute sichtbares Beispiel sozialer Schieflage – trotz erster, sichtbarer Ergebnisse des Stadtumbaus.
Grauzone bei Vermietungen
Gabriel hört zu, wo ggw-Geschäftsführer Harald Förster und Projektentwickler Dr. Siegbert Panteleit der Schuh drückt. Ein Grundproblem: Häuser kaufen, entmieten und, sofern diese nicht zu sanieren sind, abreißen, sieht die Fördermaßnahme soziale Stadt nicht vor. „Im Osten hat das gut geklappt und es wird höchste Zeit, dass das hier auch geht“, sagt Förster.
NRW-Bauminister Michael Groschek kennt das Problem. Das Land fördere zum Teil auch Abrisse, „aber nur eingebunden in ein städtebauliches Handlungskonzept“. Nächstes Problem: die Grauzone bei den Vermietungen von Wohnraum an Zuwanderer. Förster und Panteleit erzählen dem SPD-Chef, wie es geht am Beispiel des einst schmucken Eckhauses Bochumer Straße/Bergmannstraße. Der Eigentümer lebt in Leipzig, hat dem Shop-Betreiber im Erdgeschoss die Verwaltung übertragen. Der kassiert die Mieten. Wie viel und von wem ...? „Die Immobilien sind billig und für die Menschen ist wichtig, eine Adresse zu haben.“
Kurze Gespräche mit Ladenbesitzern
Gabriel wechselt ein paar Worte mit dem Inhaber eines kurdischen Kiosk’, spricht auf dem Weg zur Kutscher-Werkstatt mit dem Betreiber eines albanischen Brautmode-Ladens und trifft auf die im Iran geborene Künstlerin Ahang Nakhaei in der Kutscher-Werkstatt. Hier betont Landtagsabgeordnete Heike Gebhard, MdL, dass Stadtumbau mit den Menschen entwickelt werden müsse. „Das ist unverzichtbar.“ OB Frank Baranowski erinnert den Genossen aus Berlin an ein Gespräch bei Bundesbau- und Umweltministerin Barbara Hendricks. „Wir haben gefragt, ob wir denn auch einen Quartiersmanager kriegen. Die Antwort war ja.“ Als es beim Projekt Bochumer Straße ans Eingemachte ging, sei am Ende ein Nein heraus gekommen. Gabriel hört aufmerksam zu.
Später, auf dem Rückweg, schaut er sich noch das alte Arbeitsgericht an, in das inzwischen das NRW-Zentrum für Talentförderung eingezogen ist. „Was ist ein Talentzentrum?“ Der Vizekanzler wird aufgeklärt. Und steht dann mit seinen Begleitern noch eine Weile auf der Brücke am Teich neben dem Wissenschaftspark. Kurze Verschnaufpause vor dem „Townhall-Meeting“ – 200 Leute erwarten ihn schon.
Themen von AfD bis TTIP und CETA
„Deine Stimme für Vernunft“ lautet das Motto der Diskussion mit Sigmar Gabriel im Wissenschaftspark. Viele SPD-Mitglieder sind gekommen, Gewerkschafter, natürlich auch Susanne Neumann und „ihre Mädels“. Kaum ein aktuelles Thema, das nicht erörtert wird. CETA- und TTIP-Abkommen, Rente, Wohnungsbau, betriebliche Mitbestimmung, Tarifbindung, Vermögenssteuer, Spitzensteuersatz. Und ja, natürlich geht es auch um die Flüchtlingsfrage. „Leute nach zehn Jahren zurück zu schicken, ist quatsch“, sagt Gabriel vor dem Hintergrund des Schicksals einer jungen Albanerin, von der ihm berichtet wird. Sie hat gerade ihr Abi gemacht, will studieren, hat aber plötzlich nur noch den Status der Geduldeten. Gabriel will helfen, sagt aber angesichts der aktuellen Lage auch: „Dass jeder, der jetzt hierher kommt, hier für immer bleiben kann, das schafft selbst ein Land wie Deutschland nicht“.
Der SPD-Vorsitzende wird gefragt, wie das Motto der Partei im Wahljahr 2017 sei? Die Antwort fällt knapp aus: „Gewinnen!“ Und wie die SPD die Menschen davon überzeugen will, nicht die AfD zu wählen? Gabriel unterscheidet zwischen den Frustrierten und den Reaktionären, wie er sie nennt. „Wir müssen uns den Frustrierten stellen und mit ihnen reden. Und wir werden den anderen klar machen, dass in Artikel 1 des Grundgesetzes steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nicht: die Würde des Deutschen.“ Da brandet Beifall auf.