Gelsenkirchen. . Der Jugendhilfe-Skandal löste eine Welle der Empörung aus. Ausgerechnet die Jugendamtsleitung machte aus der Kinderbetreuung ein Geschäftsmodell.

Acht Monate, fast auf den Tage genau, ist es her, dass sich in Gelsenkirchen pure Fassungslosigkeit ausbreitete. Es war der 30. April 2015, als in der WDR-Sendung „Monitor“ der Bericht „Mit Kindern Kasse machen“ gezeigt wurde und eine enorme Welle der Empörung auslöste. Als tags darauf, am 1. Mai, die Rechten in Rotthausen aufmarschieren wollten und sich nicht nur die Demokratische Initiative der Stadt dagegen positionierte, da gab es längst ein Gesprächsthema, das noch dominanter war: der sogenannte Jugendhilfe-Skandal.

Seither ist viel passiert, ohne dass die Gesamtsituation entscheidend geklärt wäre. Alfons Wissmann, als Jugendamtsleiter und Geschäftsführer der Gelsenkirchener Kindertagesstätten bis dahin so fest im Sattel, dass nicht wenige ihn als Nachfolger für den bald ausscheidenden Dezernenten Dr. Manfred Beck (Grüne) handelten, war eine der Hauptfiguren. Wetten gegen ihn, so schien es, hätten nur verloren gehen können. Und doch war er es, der ausgewiesene Experte, der in den Jahren 2004/2005 auf dem Wege schien, sein Wissen in bare Münze umsetzen zu wollen.

Auch Orfü spielte eine Rolle

Nicht er allein, allerdings. Wissmann war in Gesellschaft. Sein damaliger Stellvertreter Thomas Frings mischte mit, ebenso, über den Umweg des Reiterhofes Orfü und die hochgelobten Stadtfreizeiten, auch dessen Vorgänger im Amt: Hans-Jürgen Meißner. Ebenfalls mit im Boot: die St. Augustinus GmbH. Im Schatten des Kreuzes gedieh etwas, was bei Lichte betrachtet nie so hätte stattfinden dürfen. Eine systematische Überbelegung des Kinderheimes St. Josef zur wirtschaftlichen Gesundung des Betriebes. Im Fadenkreuz der Anschuldigungen hier: Anja Gresch, die damalige Leiterin der Einrichtung. Sie, so hieß es zunächst, habe all dies betrieben, ohne dass die Mächtigen dieser katholischen Gesellschaft davon etwas bemerkt haben wollten.

Mittlerweile sind die Aufklärer deutlich schlauer.

Die ersten Reaktion kamen schnell: die sofortige Suspendierung der beiden Hauptbeschuldigten Alfons Wissmann und Thomas Frings. Letzterer hatte seine Position und seine ehrenamtliche Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) in Gelsenkirchen ausgenutzt, um das Geschäftsmodell Jugendhilfe zu verschleiern: Der Schutzbund schrieb die Neustart-Rechnungen. Der DKSB sorgte umgehend für eine Flurbereinigung und arbeitet mittlerweile mit einem neuen Vorstand.

Was bleibt am Ende übrig?

Im Kern der Anschuldigen steht damals wie heute eine Dreiecksbeziehung: Die frühere Jugendamtsleitung soll ihre Stellung und ihr Wissen ausgenutzt haben, um mit Kindern, die sich in staatlicher Obhut befanden, Geld zu verdienen. Wissmann und Frings sollen gezielt für eine Überbelegung des Gelsenkirchener Heims St. Josef gesorgt haben. Im Gegenzug dafür wurden Kinder aus Gladbeck und Herne (neun insgesamt) für intensivpädagogische Maßnahmen nach Pecs (Ungarn) geschickt. Träger des Heimes dort war die Neustart kft, gegründet 2004 von Wissmann und Frings. Zwischen dem Kinderheim St. Josef, Trägerin ist die St. Augustinus Heime GmbH, und der Jugendamtsleitung soll es eine Abmachung gegeben haben.

Bewiesen? Ist bis heute nicht viel. Alfons Wissmann und die Stadt einigten sich am 12. Mai 2015 auf einen Aufhebungsvertrag. Seither ist der 63-Jährige abgetaucht. Thomas Frings hingegen verhält sich anders. Er besucht als Zuhörer sogar Sitzungen des politischen Untersuchungsausschusses und gewann in seiner Angelegenheit am 1. Dezember sogar den Kammertermin vor dem Arbeitsgericht gegen die Stadt, die nun beabsichtigt, in die nächste Instanz zu gehen.

Und Anja Gresch? Die einigte sich trotz einer im Raum stehenden fristlosen Kündigung für viele überraschend und ganz leise außergerichtlich mit ihrer Arbeitgeberin, der St. Augustinus GmbH, und ward nicht mehr gesehen.

Da bleibt, Stand Jahresende 2015, die Frage: Wer kann noch etwas erreichen in diesem Kriminalstück? Die Politik? Sie erscheint mit ihrem Ausschuss wegen nicht vorhandener Kompetenzen wie ein zahnloser Tiger. Bleibt am Ende wohl nur die Staatsanwaltschaft, die unverdrossen ermittelt und sich aktuell nicht in die Karten schauen lässt.

Die Chronologie der Ereignisse

Die Chronologie des Jugendamtsskandals reicht vom 24. November 2004 bis zum 4. April 2005.

24. November 2004

Alfons Wissmann stellt einen Antrag auf Nebentätigkeit ab Januar 2005.

27. November 2004.

Dezernent Dr. Manfred Beck (Grüne) gibt in einer Stellungnahme zu dem Antrag an, keine Bedenken zu haben.

30. November 2004

Beim Referat Personal und Organisation geht ein Antrag auf Genehmigung einer Nebentätigkeit von Alfons Wissmann ab Januar 2005 vom 24. November 2004 ein. Der beinhaltete eine Stellungnahme von Beck vom 26. November, dass keinerlei Bedenken gegen die Nebentätigkeit bestehen.

15. Dezember 2004

Das Referat Personal erteilt die Nebentätigkeitsgenehmigung.

17. Februar 2005

Ein Antrag auf Genehmigung einer Nebentätigkeit von Thomas Frings ab Februar 2005 mit Datum vom 8. Februar 2005 geht ein. Der beinhaltet eine Stellungnahme des zuständigen Amtsleiters Wissmann vom 15. Februar 2005, dass keinerlei Bedenken bestehen.

28. Februar 2005

Eine Zuschrift vom Referat Personal geht an Dezernent Beck, unterzeichnet vom damaligen Personalvorstand Joachim Hampe. Es wird die Frage aufgeworfen, ob vor dem Hintergrund der Antragstellung von Thomas Frings bei der Genehmigung von Alfons Wissmann nebentätigkeitsrechtlich nicht doch eine Interessenkollision besteht. Es wird ausdrücklich auf den rechtmäßigen Umgang von Nebentätigkeiten hingewiesen. Es wird um Stellungnahme zu der Frage gebeten, ob unter Berücksichtigung der Ausführungen eine Beeinträchtigung dienstlicher Belange ausgeschlossen werden kann. Außerdem wird vom Referat Personal die Stellungnahme von Alfons Wissmann zum Nebentätigkeitsantrag Frings nicht anerkannt, da Befangenheit angenommen wird. Es wurde angekündigt, auf der Grundlage der Stellungnahme von Manfred Beck zu entscheiden, ob die erteilte Nebentätigkeitsgenehmigung Wissmann widerrufen werden muss.

7. März 2005

Dezernent Beck gibt in einem Schreiben an das Referat Personal an, mit Wissmann ein Gespräch geführt zu haben. Der habe versichert, dass keine der Maßnahmen im ungarischen Pecs von der Stadt Gelsenkirchen durchgeführt wurde, heißt es. Wissmann soll seine Nebentätigkeit beenden. Die nötigen Schritte werden noch für März 2005 angekündigt. Beck erklärt damals, dass er von einer Rücknahme des Nebentätigkeitsantrages Frings ausgehe. Am gleichen Tag schreibt Wissmann an das Referat Personal mit dem Hinweis, einen falschen Eindruck vermeiden zu wollen, und erklärt, welchen Zweck die Neustart kft hat und welche Rolle er und Frings spielen.

Neben der ausdrücklichen Erklärung, dass keinerlei Zusammenhang mit Angeboten, Diensten und Leistungen der Stadt Gelsenkirchen bestehe, beschreibt er die Gesellschaftsgründung nach ungarischem Recht mit dem Zweck intensivpädagogische Maßnahmen für extrem verhaltensauffällige Jugendliche durchzuführen. Wissmann bittet um Empfehlung, ob beide auch als Gesellschafter aussteigen sollen und versichert, dass die GmbH keine Gelsenkirchener betreut oder kostenmäßig für sie in Verantwortung steht. Dienstlich oder privat bestehe keinerlei Verbindung. Die Nebentätigkeitsgenehmigung wird mit der Versicherung zurückgereicht, die Tätigkeit als Geschäftsführer abzuwickeln. Ebenfalls am 7. März 2005 teilt Thomas Frings dem Referat Personal schriftlich mit, dass er seinen Antrag zurückzieht.

17. März 2005

Das Referat Personal legt in einer Verfügung fest, dass die geschilderte Auffassung von Alfons Wissmann nicht geteilt wird, da sein spezielles dienstliches Fachwissen insbesondere im Hinblick auf Fördermöglichkeiten der Projekte der GmbH und seine dienstlichen Kontakte in Zusammenhang mit der Rekrutierung der untergebrachten Personen nutzen könnte. Die betrieblichen Ziele seien auf die Interessenlage des Referates ausgerichtet, eine lnteressenkollision, möglicherweise sogar eine Vorteilsnahme, sei nicht auszuschließen. Dies gelte sowohl für die Geschäftsführer- als auch für die Gesellschaftertätigkeit. Am gleichen Tag empfiehlt das Referat Personal Alfons Wissmann beide Tätigkeiten niederzulegen und die Beendigung der Geschäftsführertätigkeit anzuzeigen.

4. April 2005

Alfons Wissmann teilt dem Referat Personal mit, zum 1. April 2005 die Nebentätigkeit als Geschäftsführer eingestellt und die Gesellschafteranteile abgetreten zu haben.