Gelsenkirchen. Für diese Drei aus Syrien ist Gelsenkirchen „der allerschönste Platz“ überhaupt.
„Gelsenkirchen is the most beautiful place in my life.“ Genna (*) strahlt über das ganze schöne Gesicht. Mit ihrem Mann Memnun und ihrem dreieinhalbjährigen Sohn Djadi ist sie angekommen. Endlich. Die kleine Familie hat ein neues Zuhause. Mit echten Wänden und Türen, mit eigenem Bad, einer Küche . . .
Gelsenkirchen – das ist für die Drei aus Syrien nach wochenlanger Flucht und Entbehrungen, nach Todesangst auf dem kleinen Boot, dessen Motor mitten auf dem Meer versagte, nach Durst, Hunger und nicht zuletzt der menschlich unanständigen Umgangsart ungarischer Polizisten gegenüber den Flüchtlingen wie ein Geschenk.
Vermieter will anonym bleiben
Wir sitzen im Wohnzimmer der neuen Vermieter der syrischen Familie, irgendwo in Erle. Die Hausbesitzer erklären den Wunsch nach Anonymität. „Wir möchten einfach, dass die Drei Ruhe haben“, sagt . . . nennen wir sie Hannelore. Sie und ihr Mann Walter hatten gerade eine leer stehende, möblierte Wohnung – eigentlich für Montagearbeiter vorgesehen – als OB Frank Baranowski sich mit einem öffentlichen Appell an Wohnungs- und Hauseigentümer gewandt hatte, doch bitte freien Wohnraum für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. „Unsere Kinder haben uns drauf gebracht und gesagt: Warum bieten wir die nicht für Flüchtlinge an?“ Hannelore lacht. „Warum nicht? Lassen wir uns auf das Abenteuer ein.“
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Gesagt, getan: Sie meldeten die 67 Quadratmeter große dreieinhalb Zimmer-Wohnung und bekamen Besuch von der Stadt. Sie wollen gern eine Familie aus Syrien aufnehmen, das war der einzige Wunsch, den sie hatten. Rentner Walter, der sein ganzes Leben lang beruflich in der Weltgeschichte unterwegs war, fand das auch gut. Und schon wieder huscht Hannelore ein Lächeln über das Gesicht, als sie an die Erstbesichtigung denkt. „Wann wird die Wohnung denn geräumt?“ seien sie gefragt worden. Na, gar nicht, die Möbel gehören dazu.
Ein Sechser im Lotto also für Genna, ihren Mann und den kleinen Djadi, die nach ihrer Ankunft in Gelsenkirchen zunächst mit 147 anderen Flüchtlingen an der Breddestraße untergebracht waren. Sie lernten Hannelore, Walter und ihre Familie kennen – und die Chemie stimmte. Vergangene Woche wurde der Mietvertrag unterzeichnet. Djadi fühlte sich sofort wohl und schloss Freundschaft mit einem Enkel der Vermieter.
Warmherzige Nachbarschaft
Auch die anderen Hausbewohner wurden auf die neuen Nachbarn vorbereitet. Einer von ihnen, vor Jahren aus Polen nach Deutschland gekommen und ohne arabische Sprachkenntnisse, benutzte sein Smartphone für Übersetzungen. Walter schmunzelt, als er von der netten Begebenheit im Flur erzählt. Der Mann habe zwei Hunde, die hätten gebellt. „Da hat er ins Handy gesprochen: ,Herzlich willkommen, die Hunde beißen nicht.’ Und 20 Euro hat er der Familie auch noch in die Hand gedrückt.“
Flüchtlinge in DeutschlandDjadi läuft zum Sideboard, die braunen Augen schauen Hannelore fragend an. Sie gibt ihm ein Zeichen. „Du weißt doch, wo. . .“ Er findet die Schublade, in der die Gummibärchen-Tütchen liegen, bekommt noch einen Saft dazu. Großmütterliche Großzügigkeit kennt eben keine Grenzen. Ein Verwandter Hannelores, der die neuen Mieter heute auch zum ersten Mal trifft, schmunzelt. „Sie ist eine echte Mutter Theresa.“ Außerdem sei der Junge sowieso viel zu schmal. . . (* Namen geändert).
Das überquellende Boot stand vor dem Kentern
Die deutsche Familie hat wie selbstverständlich über die Wohnungsvermietung hinaus geholfen und ist beispielsweise mit * Genna, Memnun und Djadi zum Sozialamt gefahren. Mit der Straßenbahn. Das war vor allem für den Kleinsten ein Erlebnis – er kann sein erstes deutsches Wort. Wie bestellt fährt eine S-Bahn vor dem Wohnzimmerfenster vorbei, als der Knirps aufgeregt mit dem Finger nach draußen zeigt: „Straßenbahn!“.
Der Junge hat beste Chancen, schnell deutsch zu lernen. Weil Hannelore weder englisch noch arabisch spricht.
Die Sprache lernen, das hat für Djadis Eltern höchste Priorität. Genna erzählt die Geschichte ihrer Flucht in fließendem Englisch. Ein Einzelschicksal von tausenden. Sie strahlt dabei wohl wissend, dass sie und ihre kleine Familie es geschafft haben. Zu Fuß, mit der Bahn, auf dem Wasser – wo es der Bootsmann zum Glück schaffte, die Maschine wieder ans Laufen zu kriegen, bevor Panikbewegungen das mit Menschen überladen Boot zum Kentern bringen konnten.
Zwei Stunden auf dem Platz
Nur einmal kämpft Genna heftig gegen Tränen. Als sie von Ungarn erzählt, dem „worst place“ ihrer Flucht. Zwei Stunden bei Gluthitze auf einem Platz stehen, dann in ein Camp. Kein Wasser, keine Lebensmittel. Als sie für den weinenden Djadi um Wasser bat, hat sie eine verbale Abfuhr erhalten. „Das ist mein Land, nicht deins“, habe ihr der Mann gesagt...
Umso dankbarer ist Genna heute über die vielen freundlichen Menschen, die ihr begegnen. An erster Stelle der hilfsbereiten Vermieter-Familie. Weil sie, ihr Mann und ihr Kind hier endlich Ruhe in den eigenen vier Wänden gefunden haben. Auch in akustischer Hinsicht. (* alle Namen geändert)