Gelsenkirchen. Dr. Mark Benecke über Chancen, die Todesursache des stark verwesten Mannes in einem Klinik-Fahrstuhl in Gelsenkirchen noch festzustellen.

Er ist Vorsitzender der Deutschen Dracula-Gesellschaft. Er ist Mitglied des Komitees des Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen. Und er ist der bekannteste Kriminalbiologe Deutschlands – manche sagen: der Welt: Dr. Mark Benecke, Veganer, Tattoo-Fan und – eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie. Mit ihm sprach WAZ-Redakteur Nikos Kimerlis über den toten Patienten im Klinik-Fahrstuhl.

Acht Tage lag der Leichnam seit Anfang Juli in einem Lift. Was für eine Leiche hat man geborgen?

Dr. Mark Benecke: Ich kenne diesen Aufzug nicht. In dem Zeitraum war es heiß. Es kommt darauf an, welche Temperatur im Lift geherrscht hat, ob die Kabine von Luft durchzogen wird oder ob die Leiche in der Ecke oder nahe eines Türschlitzes gelegen hat, um einige wichtige Faktoren zu nennen.

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Guter Luftdurchzug und Wärme bewirkt, dass man eher mumifizierte Leichen findet, also einen eingetrockneten Körper, dem die Flüssigkeit über die Luft nahezu völlig entzogen worden ist – das war früher oft der Fall, wenn sich psychisch kranke Menschen auf dem damals noch luftigen Dachboden erhängt haben und erst nach einigen Tagen gefunden wurden. Hitze im Zusammenspiel mit Feuchtigkeit, die sich staut, sorgt dagegen für eine schnelle Zersetzung. Der Körper wird zu einer breiig-schleimigen und manchmal auch käsigen Masse. Es gibt aber auch Fälle, in denen beides zugleich eintreten kann: Ich habe mal eine Frauenleiche untersucht, die mit Gesicht und Beinen nahe an einem Türschlitz lag, diese Bereiche waren vertrocknet, der Rest in dem beschriebenen Maß aufgequollen, verwest.

Die Polizei sprach von einem stark verwesten Körper, haben die Einsatzkräfte da schon eine Leiche voller Maden gefunden?

Dr. Benecke: Insekten legen vorzugsweise ihre Eier in Körperöffnungen wie Auge, Nase oder Mund – vorausgesetzt sie finden einen Weg in den Aufzug durch Ritzen und Löcher. In den Körperöffnungen einer Leiche herrschen für den Nachwuchs ideale Bedingungen: Wärme, Schutz, Feuchtigkeit und Nahrung. Die Augen enthalten dabei den größten Wasseranteil, lösen sich am schnellsten auf.

Der Kölner Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke, Tattoo-Fan und überzeugter Veganer. Sein Faible für Insekten, die Leichen besiedeln, hat ihm den Spitznamen „Dr. Made“eingebracht.
Der Kölner Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke, Tattoo-Fan und überzeugter Veganer. Sein Faible für Insekten, die Leichen besiedeln, hat ihm den Spitznamen „Dr. Made“eingebracht. © dpa

Die kargen Angaben der Polizei lassen auf feucht-warme Umgebungsbedingungen schließen. Am und im menschlichen Körper befinden sich mehr Bakterien- als Körperzellen. Die Bakterien haben unter den Voraussetzungen Kirmes. Im Prinzip verflüssigt sich das Körperinnere zunehmend, übrig bleibt manchmal ein sackartiges Behältnis, nur zusammengehalten und stabilisiert von Haut und Knochen.

Offiziell heißt es, Tod durch Schlag- oder Herzanfall, Ersticken oder Verdursten lassen sich nicht mehr nachweisen. Was ist möglich?

Dr. Benecke: Bei der Zersetzung bilden sich Alkohole, die verschiedenen Arten lassen sich manchmal auseinanderhalten, so ließe sich eventuell Alkoholkonsum nachweisen. Und es gibt mittlerweile auch ein gutes Verfahren, bei denen man langes Alkoholtrinken auch in den Haaren nachweisen kann.

Die akute Einnahme – also kurz vor dem Tod – von Substanzen wie Betäubungsmitteln und starken Medikamenten gelingt dagegen nicht mehr. Es braucht Zeit, bis sich nachweisbare Spuren davon in Knochen und Haaren ablagern. Mit Glück findet man vielleicht etwas Restblut im Herzen, Reste von Urin in der Blase oder Muskelgewebe in brauchbarem Zustand, etwa im Oberschenkel, das sich analysieren lässt.

Im vorliegenden Fall werden sich die forensischen Toxikologen daher hüten, sich hinsichtlich des Konsums etwaiger Substanzen vor Gericht festzulegen. Unter den angenommen mikroklimatischen Bedingungen ist die Gewebe-Integrität nicht mehr gegeben: Fett, Haut, Muskeln, Blut, Bindegewebe und Organe sind zersetzt oder zerlaufen und lassen sich nicht mehr auf Todesursache hin untersuchen. Anders sähe es beispielsweise bei einer verbrannten Leiche aus. Der Körper verbrennt von außen nach innen, da kommt es hin und wieder vor, dass der Herzmuskel noch so gut erhalten ist, dass eine Untersuchung zur Todesursache, etwa einem Herzinfarkt, erfolgreich ist.

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Hoher Aufwand, hohe Kosten

Wann kann man mit einem Gutachten rechnen?

Dr. Benecke: Schwer zu sagen. Es kommt darauf an, wie umfangreich das Gutachten sein soll. Zudem ist gerade Urlaubszeit. Es gibt sehr vielversprechende, aber dafür auch sehr teure Spezialverfahren, um den Ursachen eines Todes auf die Spur zu kommen. Ich bezweifele aber, dass in diesem Fall Steuergelder für Sonderuntersuchungen ausgegeben werden. Womit wir bei einem gesellschaftlichen Problem wären. Nach den bislang bekannten Informationen haben wir es mit einem Patienten mit Suchtproblematik in psychiatrischer Behandlung zu tun. Um Junkies, Alkoholiker oder auch schizophrene Menschen beispielsweise kümmert sich im Alltag schon so gut wie niemand – warum also sollte der Tod eines Außenseiters der Gesellschaft das Interesse sprunghaft erhöhen? Was würde eine große Sektion mit Labortests bringen? Eine dicke Akte und hohe Rechnung.

Das gesellschaftliche Interesse an einer umfassenden Untersuchung ist meiner Erfahrung nach vermutlich gering. Ich selbst sage: Man sollte genau hinschauen und es versuchen, es ergibt sich fast immer eine zusätzliche Information.

Dr. Mark Benecke auf der Spurensuche.
Dr. Mark Benecke auf der Spurensuche. © De Scheck

Wie teuer sind diese Gutachten, können Sie das beziffern?

Dr. Benecke: Nein, weil es teils Steuergelder sind, die teils nicht offiziell abgerechnet werden. Ich kann grobe Richtwerte nennen, ohne Betriebskosten: Leichenschau je nach Aufwand und mit direkt zusammenhängenden Untersuchungen: 200 bis 2000 Euro. Laboruntersuchungen je nach Aufwand: 50 bis 20.000 Euro. Im vorliegenden Fall liegen die Kosten vermutlich im unteren Bereich des Genannten.

Hört sich an, als ob einiges unter den Tisch fällt . . .

Dr. Benecke: Eindeutig. Ich kenne beispielsweise eine Studie eines Kollegen, der 10.000 Leichen von Pflegepatienten allein äußerlich beurteilt hat. Das Ergebnis war erschütternd: schlechte Pflege. Ihm wurde aber verboten, seine Untersuchungen zu veröffentlichen.

Starker Tobak. Ihnen gehört das Schlusswort.

Dr. Benecke: Ich möchte, dass die Menschen begreifen, dass Prozesse wie die Verwesung zum Kreislauf des Lebens gehören. Ohne Fäulnis wäre die Welt voller toter Menschen.