Gelsenkirchen. Das Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe in Gelsenkirchen packte bei einer Podiumsdiskussion am Donnerstagabend ein brisantes Thema an.

Buchstabenglaube, Tabuisierung unter anderem der Sexualität, Gewalt als religiöse Argumentation und Angstpädagogik gehören zum psychologischen Handwerkszeug radikaler Islamisten. Wir die Guten, die Gläubigen werden gerettet, die Anderen, die Ungläubigen sind verloren, suggerieren die salafistischen Seelenfänger, deren Opfer im schlimmsten Fall als fanatische „Gotteskämpfer“ in Syrien oder im Nordirak enden. Oder als linientreue Frau eines Jihadisten.

In der Einschätzung der Menschenfänger-Methodik sind sich die drei Diskutanten (ein Vertreter des Verfassungsschutz’ fehlt wegen Personalmangels!) und Moderator Abdul-Ahmad Rashid auf dem schwarzen Talk-Sofa in der Aula des Weiterbildungskollegs Emscher-Lippe wohl einig.

Jugendliche suchen nach Werten und Regeln

Was aber fasziniert junge Leute zwischen 17 und 27 Jahren so sehr an einem Glauben, wie er vor Jahrhunderten gelebt wurde? Welche Anziehungskraft übt diese Psychofalle „Himmel oder Hölle“ aus? Und vor allem: Wie kann man dieser gefährlichen Entwicklung in Zeiten wachsender Islamfeindlichkeit, die sich etwa in der wachsenden Rechtsbewegung der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) Bahn bricht, wirksam begegnen? Der aus Israel stammende Araber Ahmad Mansour beschäftigt sich seit Jahren mit Projekten gegen Radikalisierung, Unterdrückung im Namen der Ehre und Antisemitismus. Er sagt: „Salafisten nutzen die Unsicherheit der Jugendlichen aus, die nach Werten und Regeln, nach Orientierung suchen.“

„Radikalisierte Jugendliche werden von Moschee-Gemeinden nicht erfasst“

Die dritte und vierte Generation der Muslime in Deutschland sei vernachlässigt worden, sagt Mansour. „Die finden das Freitagsgebet langweilig, verstehen es manchmal nicht einmal.“ Mit äußerst bedenklichen Folgen, denn die Salafisten hätten diese Lücke erkannt, seien im Internet „unglaublich präsent und sprechen die Sprache der Jugend“. Emine Oğuz, Juristin und Landeskoordinatorin von über 80 Moschee-Gemeinden der türkisch-islamischen Organisation Ditib in Niedersachsen und Bremen, räumt ein: „Wir haben die Jugendlichen hinten an gestellt. Aber in den ersten 20 Jahren hatte die türkische Community andere Probleme.“ Zum Beispiel Moscheen zu bauen.

Sie beschreibt, wie schwierig es sei, Jugendarbeit mit ehrenamtlichen Kräfte zu stemmen. „Für Muslime ist es schwierig gewesen in den letzten 30 Jahren“, sagt sie. Und Ditib sei ein Verband und nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt. Was den Fernsehjournalisten Abdul-Ahmad Rashid zu der Feststellung bringt: „Die radikalisierten Jugendlichen werden von Moschee-Gemeinden ja nicht erfasst.“ Mansour mahnt: „Die Mehrheit der Jugendlichen, die hier leben, können wir noch erreichen. Aber wir brauchen ein alternatives Gottesbild gegen den bestrafenden Gott.“

Barmherzigkeit müsse gegen Bestrafung gesetzt werden. Nicht nur Irfan Ortac, Politologe und zurzeit Lehrer am WEL, sieht auch Bildungseinrichtungen in der Verantwortung. Allerdings: „Islamische Radikalisierung wird noch sehr zurückhaltend behandelt.“

Als Mitglied und Sprecher der Jeziden bewegt ihn, was in Syrien passiert. „Das Land ist seit vielen Jahren Schauplatz einer entsetzlichen Katastrophe.“ Er wünscht sich, dass überall in NRW „mutig über das Thema geredet wird“.

Zuhörerin fragt: „Warum verbietet man Hassprediger nicht?“

Inwieweit lässt sich der Islam missbrauchen? Und warum das Thema? Schulleiter Günter Jahn beantwortet die Frage. „Jihadismus ist verbunden mit einer konkreten Bedrohungssituation.“ Natürlich könne man von einem Randproblem sprechen. Aber 200 Jihadisten in NRW, das sei schon eine konkrete Größe. Das Alter der Leute, die sich davon angezogen fühlten, „ist das Alter unserer Studierenden“, so Jahn.

In der abschließenden Fragestunde musste sich Emine Oğuz auch kritischen Anmerkungen stellen. Etwa, dass sie keine konkreten Lösungsansätze genannt habe. Eine Studierende, die aus Wuppertal stammt, fragte: „Warum verbietet man Hassprediger wie Pierre Vogel nicht?“ Was laut Oğuz äußerst schwierig sei, „solange man ihm juristisch nichts nachweisen kann“. Ahmad Mansour sieht die Moscheeverbände in der Pflicht. „Solange die Verbände keine Alternativen anbieten zu Angstpädagogik und Buchstabentreue, sind sie Teil des Systems.“

Antworten geben auf Religionssehnsucht

Es brauche ein neues Islamverständnis. Es gebe, so Mansour, „genug kritische Stimmen, die in der Islamkonferenz dazu etwas sagen könnten, aber wir werden ausgeladen, weil die Verbände das nicht wollen.“ Was die Juristin mit der Anmerkung quittiert: „Neues Islamverständnis wäre falsch. Aber diskutieren darüber – ja.“ Passend die Anmerkung aus dem Publikum: „Es muss auch Antworten auf Religionssehnsucht geben.“