Gelsenkirchen. Zwischen September 2013 und Anfang Mai 2014 hatte der Landesbetrieb Straßen NRW die Geschwindigkeit auf der A 52 Höhe Gelsenkirchen-Buer reduziert. Viele Bußgeldbescheide kamen bei geblitzen Autofahrern jedoch erst an, als die Tempo-Reduzierung bereits aufgehoben war. Das sorgt nun für Ärger.

Am 31. März dieses Jahres wurde Rentner Eugen B. aus Marl auf der A 52 in Buer geblitzt. Was er nicht bemerkte. Umso erstaunter reagierte der Mann, als ihm Ende April das „Beweisfoto“ per Post ins Haus flatterte. Absender: Stadt Gelsenkirchen.

Der 85-Jährige schaltete seinen Anwalt ein, der schriftlich nachfragte, was man seinem Mandanten denn vorwerfe? Nun, als der Bescheid mit Anhörungsbogen am 17. Juni in der Post lag, klärte sich die Sache auf: Eugen B. war an besagtem Tag bei Kilometer 9,08 in Fahrtrichtung Essen statt mit vorgeschriebenem Tempo 80 mit 129 „Sachen“ (nach Toleranzabzug) erwischt worden: 210 Euro Bußgeld (Verwaltungsgebühr inklusive), vier Wochen Fahrverbot, drei Punkte in Flensburg.

Rentner kontrollierte die Strecke – und fand keine Tempo 80-Schilder

Eugen B. traute seinen Augen nicht, fuhr die Strecke fünf Mal an verschiedenen Tagen ab. Nichts. Kein Schild, keine Temporeduzierung. Der 85-Jährige legte Widerspruch ein. Und wurde zu einem von annähernd 700 – zum größten Teil noch anhängigen – Verfahren beim Amtsgericht in Buer. Amtsgerichtsdirektor Bernd Wedig war am 30. Oktober sein zuständiger Richter. Und machte vor dem Hintergrund der besonderen Situation einen Vorschlag zur Güte, den der Rentner auch annahm: doppelte Strafe, dafür Aufhebung des Fahrverbots. Nur die Punkte bleiben.

Eugen B. ist einer von annähernd 3000 zwischen dem 4. März und Ende April „Geblitzten“. Sechs Geschwindigkeitskontrollen hat die Autobahnpolizei Münster in dieser Zeit durchgeführt – als zwischen Kilometer 9,950 und 8,650 tatsächlich die Geschwindigkeit reduziert war. Hintergrund: Der Landesbetrieb Straßen NRW hatte 2013 in dem Abschnitt eine leichte Senke festgestellt und – um eventuelle Bergschäden zu erforschen und die Stabilität der Senke zu beobachten – rein vorsorglich die Geschwindigkeit herabgesetzt. Von freier Fahrt auf 120 - 100 – 80 km/h. Diese Einschränkung galt bereits seit September 2013 – Tempomessungen der Autobahnpolizei gab es erst ein halbes Jahr später. Am 8. Mai wurde die Geschwindigkeitsbegrenzung wieder aufgehoben.

Bußgeldstelle legte für fast 3000 Halterfeststellungen Überstunden ein

Kein Wunder also, dass Rentner Eugen B. und alle anderen sich ihre Verstöße nicht erklären konnten. Die Bescheide kamen zumeist nach Abbau der Temposchilder. In der Bußgeldstelle der Stadt liefen also die Drähte heiß. Temposünder oder deren Anwälte wollten Auskunft. Aber in der Verwaltungsstube konnte das Phänomen niemand erklären. Keiner war über den Grund der achtmonatigen Einschränkung informiert. Dafür wurden Überstunden eingelegt – um annähernd 3000 Halterfeststellungen abzuarbeiten ...

Richter wägt seine Entscheidung im Einzelfall ab

Richter Bernd Wedig macht keineswegs generell den Vorschlag: mehr zahlen statt Fahrverbot. „Das ist immer eine Abwägung im Einzelfall“, sagt der Mann, bei dem sich die Widersprüche gegen die Bußgeldbescheide türmen. Ein wahres Massenverfahren. Bei Rentner B. hat Wedig den besonderen Umstand erkannt, dass der zweimal wöchentlich aus gesundheitlichen Gründen nach Essen fahren muss. In anderen Fällen sei vielleicht der Arbeitsplatz gefährdet. Wedig hat daher auch schon die Zeit des Fahrverbots verringert. Ein Richter könne das tun.

Soweit die rechtliche Seite. Aber: Wer kassiert eigentlich die stattlichen Sümmchen, die bei den Verfahren zusammenkommen? Stadtsprecher Martin Schulmann sagt: „Wir bekommen die normalen Bußgelder. Wer vor Gericht zieht, zahlt an die Landeskasse.“