Essen. Bei den türkischen Präsidentschaftswahlen nahmen gestern die ersten der rund 250.000 Wahlberechtigten in der Region Kurs auf die Urnen in der Messe Essen. Viele jüngere Erstwähler spüren derweil einen Konflikt zwischen Tradition und Moderne. Bis einschließlich Sonntag sind die Lokale geöffnet

Es geht wohlgeordnet zu an den Eingängen der Hallen 11 und 12 der Messe Essen, denn die formalen Ablaufregeln sind streng: An den Türen stehen Sicherheitskräfte, die jeden Wahlberechtigten einzeln mit Metalldetektoren kontrollieren – die Presse erhält nur mit einer Sondergenehmigung Zugang. Eine Vorgabe der Türkischen Wahlkommission. Und dennoch liegt ein Aufbruchsgeist in der Luft – für 250.000 türkischstämmige Bürger aus Essen und Umgebung ist es das erste Mal, dass sie in Deutschland über die Zukunft ihres Heimatlandes mitbestimmen können.

Eine von ihnen ist die 18-jährige Esra Güven, die mit ihren Eltern gekommen ist. Nein, Mama und Papa hätten keinen Einfluss darauf, wo sie heute ihr Kreuz macht, sagt sie entschlossen; ihre Stimme gehöre nur ihr: „Für mich ist es schon etwas Besonderes, hier in Deutschland wählen zu dürfen. Ich wünsche mir, dass die Türkei auch in Zukunft zu ihren traditionellen Werten steht.“ Auch Ezra trägt Kopftuch, legt Wert auf einen islamischen Lebenswandel.

"Das ist eine Form von Vergewaltigung"

So ist es für viele Türken wohl nicht nur eine richtungsweisende politische Entscheidung, die sie in diesen Tagen treffen, sondern auch eine ideologische. Die jüngsten Äußerungen des stellvertretenden Regierungschefs Bülent Arinc sind auf den Gängen zwischen den Wahllokalen das Klatschthema Nummer Eins. Der Parlamentspräsident hatte zuletzt europaweit Spott mit seiner Forderung auf sich gezogen, dass türkische Frauen nicht laut in der Öffentlichkeit lachen sollten.

Eine Haltung, über die Metin Dursun überhaupt nicht lachen kann; ihm ist das moralinsaure Gebaren der türkischen Machthaber bitterernst: „Das ist eine Form von Vergewaltigung. Wenn ich einem Menschen vorschreiben will, wie er sich zu kleiden, zu verhalten, zu sprechen hat, dann breche ich seine Persönlichkeit.“ Er unterstützt die HDP, eine Splitterpartei, die sich für die Interessen der Kurden in der Türkei einsetzt. „Wir haben in unserem Land keine Lobby. Es gibt etwa 36 ethnische Minderheiten in der Türkei, die alle eines gemeinsam haben – ihren Hass auf die Kurden“, so Dursun.

Stimmen der im Ausland lebenden Türken sind wichtig

So spürt man gerade bei den jüngeren Wahlberechtigten eine gewisse Verunsicherung, wie es mit ihrem Land weitergehen soll. Zwar sind viele offenbar durch die Gezi-Proteste politisch sensibilisiert, fühlen sich aber zwischen Tradition und Moderne hin- und hergerissen. Ayse Kara* etwa (*Name von der Redaktion geändert), 21 Jahre jung, ist überzeugte Muslimin, doch vom System Erdogan hat sie schon lange die Nase voll: „Im Ausland hat die Türkei den Ruf, ein unmodernes Land zu sein. Das ist der Verdienst dieser Regierung“, sagt sie, ärgert sich aber auch über das Schwarz-Weiß-Denken einiger Deutscher, wenn es um religiöse Toleranz geht: „Ich bin in der Schule oft für meine Religion verspottet worden. Einer Bekannten von mir hat man sogar schon mit Gewalt das Kopftuch heruntergerissen.“

Für den Ausgang der Wahl sind die Stimmen der im Ausland lebenden Türken wichtig, wie Haci-Halil Uslucan, Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg Essen, erklärt: „Für die Regierungspartei AKP liegt das Wählerpotenzial in der Türkei zwischen 46 und 49 Prozent. Man braucht im ersten Wahldurchgang mindestens 50 Prozent der Stimmen, um die Wahl zu gewinnen.“

Zünglein an der Waage

Somit könnten auch die Stimmen aus Deutschland für Erdogan und seine AKP den entscheidenden Vorsprung bringen. „Deshalb buhlt die Regierung besonders um die Gunst der Wähler im Ausland“, so Uslucan und wagt eine kleine Prognose im Hinblick auf deren Wahlverhalten: „Viele der hier lebenden Türken stehen der AKP nahe. Von den praktischen Konsequenzen der Wahl sind sie ja nur indirekt betroffen, da sie nicht in der Türkei leben. Deshalb orientieren sie sich oft eher nach traditionellen Werten.“

Ansonsten geht es in den Messehallen auch nicht anders zu als bei einer gewöhnlichen Bundestagswahl: In 75 separierten Wahllokalen, die sich über zwei Hallen verteilen, sitzen jeweils eine Handvoll Wahlhelfer und harren der Dinge, die da kommen. Auf den Stimmzetteln sind die drei Kandidaten mit Foto abgebildet. Der ganz große Andrang bleibt noch aus. „Zum Glück haben wir Internetzugang und genügend zu knabbern“, sagt einer der Wahlhelfer. „Sonst kann einem die Zeit hier schon lang werden.“