Essen. Zehntausende im Revier lebende Türken können womöglich im Sommer in der Messe Essen erstmals ihren Präsidenten wählen. Die in Deutschland lebenden Türken dürfen erstmals auch hierzulande ihre Stimme abgeben, und Essen soll einer von bundesweit sieben Standorten für ein Wahllokal sein.

Rein in den Bus, 25 Stunden und mehr bis zur türkischen Grenze absitzen, raus aus dem Bus, wählen gehen – und dann wieder zurück. Man muss schon eingefleischter Fan der heimischen Demokratie sein, um solche Strapazen auf sich zu nehmen, aber „das war bislang alles andere als eine Seltenheit“, weiß Muhammet Balaban, einst Chef des Integrationsrates, über seine türkischen Landsleute zu berichten: „Die Türken nehmen das mit der Wahl wirklich sehr ernst.“

Und sie haben es dabei künftig spürbar bequemer, womit nicht etwa der Ersatz des Reisebusses durchs Flugzeug gemeint ist. Nein, die in Deutschland lebenden Türken dürfen erstmals auch hierzulande ihre Stimme abgeben, und Essen soll einer von bundesweit sieben Standorten für ein Wahllokal sein.

Rund 1,39 Millionen wahlberechtigte türkische Staatsbürger leben in Deutschland

Dass man dabei nicht über ein paar Klassenräume in einer zentral gelegenen Schule redet, zeigt schon eine überschlägige Rechnung: Rund 1,39 Millionen wahlberechtigte türkische Staatsbürger leben zwischen Kiel und Konstanz, jedes der sieben Wahllokale muss also im Schnitt rechnerisch rund 200.000 potenzielle Wähler abfertigen können. Bei einer in der Türkei üblichen Wahlbeteiligung um die 70 Prozent redet man also von einem Urnengang in Essen für gut 140.000 Türken aus dem gesamten Ruhrgebiet und wohl auch darüber hinaus.

Und für solche Menschenmassen kommen nicht allzu viele Orte in Frage: Nach NRZ-Informationen ist das Messegelände an der Norbertstraße in einem Konzept aufgeführt, das die türkische Botschaft jetzt beim Auswärtigen Amt eingereicht hat. Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es weder in Berlin noch bei der hiesigen Messe, denn die Standortliste muss zunächst noch geprüft werden.

Viertägiger Wahlmarathon bei Präsidentschaftswahlen

Dabei geht es nicht um eine inhaltliche, nicht um eine politische Prüfung, sondern allein um die Frage, wie der viertägige Wahlmarathon der Präsidentschaftswahlen vom 31. Juli bis zum 4. August organisatorisch über die Bühne gehen kann – und vor allem, ob sich die Örtlichkeiten mit Blick auf Sicherheitsbedenken aller Art eignen.

Nicht nur die Sicherheitsbehörden schauen mit Sorge auf die hochgeschaukelte politische Stimmung in der Türkei – und auf die Frage, wie man verhindern kann, dass diese in den hiesigen Alltag herüberschwappt. Auch das in Essen beheimatete Zentrum für Türkeistudien macht die polarisierte Stimmung zum Thema: „In Großstädten mit hohem türkeistämmigen Migrantenanteil kann es durch die Wahlpropaganda zu Spannungen und Auseinandersetzungen kommen, für die man kaum mit Verständnis vom Rest der Gesellschaft rechnen kann“, heißt es in einem aktuellen Papier.

Dabei ist die Präsidentschaftswahl erst der Auftakt: Im kommenden Jahr stehen Parlamentswahlen in der Türkei an, „es geht deshalb in diesem Sommer darum, Erfahrungen zu sammeln, damit das im nächsten Jahr nicht ausufert“, sagt Muhammet Balaban, und da sind fahnenschwenkende Autokorsos hupender Wahlsieger wohl noch das geringste Problem.

Dass sie erstmals auch hierzulande ihre Stimme abgeben dürfen, ist für die türkische Gemeinde ein echter Gewinn: „Die warten sehnsüchtig darauf“, weiß Balaban, der es persönlich gleichwohl lieber gesehen hätte, wäre die Briefwahl erlaubt worden. Doch ein bereits verabschiedetes Gesetz wurde vom türkischen Verfassungsgericht wieder einkassiert, weil man, so das Zentrum für Türkeistudien, eine „Beeinflussung von außen, zum Beispiel durch Familienmitglieder oder den Freundeskreis während der Stimmabgabe“ fürchtete.