Essen-Werden. Mit dem Unwetter und dem Abbruch des Pfingst Openair-Festivals brach im Werdener Löwental das Chaos aus. Tausende Festivalbesucher flüchteten zu Fuß in Richtung Bahnhof Werden. Es spielten sich Szenen ab, die manchen an die Loveparade erinnerten.
Als um kurz nach neun der erste Blitz über das Festivalgelände im ehemaligen Freibad Löwental zuckt, wird dies im Publikum noch mit höhnischem Jubel quittiert. Nein, so wirklich rechnet niemand mit dem prognostizierten Unwetter. Und als Hauptact MC Fitty, einen überdimensionalen Ghettoblaster in der Hand auf die Bühne stapft, ist jeder Gedanke ans Wetter verflogen. Die Beats drücken aus den Boxen, es regnet Konfetti, das Publikum hüpft, klatscht. Doch schon beim zweiten Song ist es mit der Party vorbei. Sturmböen kommen auf, es fängt an zu regnen. Hektisch stürmen die Veranstalter auf die Bühne: „Wir brechen ab. Bitte begebt euch schnell und ruhig über Notausgänge nach draußen.“
Binnen Sekunden wird aus dem anfänglichen Nieseln ein fetter Platzregen. Die Tropfen schmerzen auf der Haut wie tausend Nadelstiche, so kräftig peitscht der Wind das Wasser hernieder. Auf dem dunklen Sportplatz sieht man die Hand vor Augen nicht. Die Musikfans laufen schneller; nur weg, lautet die Devise. „Wo ist Alex?“, ruft jemand. „Ich bin direkt hinter dir. Weiter! Weiter!“ „Und bleibt von den Bäumen weg“, schreit eine andere Stimme.
Mit den Nerven am Ende
Auf der Straße Im Löwental zeigen sich die ersten Folgen des Sturms: Überall liegen abgerissene Zweige auf dem Asphalt, abgeknickte Äste habe Autos unter sich begraben und einige Bäume sind auf auf Häuser gestürzt. Man sieht die Besucher, vor allem Mädchen und junge Frauen, die humpelnd von ihren Begleitern gestützt werden.
Chaos nach Festival in Werden
Die Menge stürmt weiter, sucht dicht gedrängt Schutz unter der Brücke der Ruhrtalstraße. Während einige immer noch Woodstock-artiges Vergnügen an der Situation finden, sind die meisten mit den Nerven am Ende. Junge Männer halten ihre vor Panik und Kälte zitternde Freundinnen in den Armen, viele weinen. Wer noch Empfang mit seinem Handy hat, reicht das Mobiltelefon freigiebig weiter, damit auch die Umstehenden ihre Lieben daheim beruhigen können. „Mach dir keine Sorgen; mir geht es gut“, lautet der meistgehörte Satz unter dem Notunterstand der Brücke, die allerdings nur das Allergröbste abhält.
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Am S-Bahnhof geht nichts mehr. Ein Zug steht am Bahnsteig, die Flüchtenden drängen hinein, doch die Bahn hat den Schienenverkehr bereits eingestellt. Als die Fahrgäste das bemerken, schieben sie zurück auf den Bahnsteig. Doch der ist voller Menschen, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen. Man fühlt sich an die Bilder der Duisburger Loveparade erinnert, als die Jugendlichen über den Zaun klettern, um vom Bahnsteig zu entkommen.
Nass bis auf die Knochen
Es geht nichts mehr. Die Bredeneyer Straße ist Richtung Norden gesperrt, Busse und Bahnen? Fehlanzeige. Zu Fuß rennen die Festivalbesucher Richtung Werdener Innenstadt, allesamt nass bis auf die Knochen. In Hauseingängen der Altstadt suchen die Menschen Schutz, halten sich dicht gedrängt in den Armen, um zumindest ein bisschen weniger zu frieren. Immer wieder fingern sie nach ihren Handys, um ein Taxi oder zur Not einen Parkplatz bei in der Nähe wohnenden Freunden zu organisieren.
Selbst um Mitternacht stehen immer noch Hunderte Jugendliche am Bahnhof. In Decken und Handtücher gehüllt warten sie. Den meisten steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Ein bibberndes Mädchen drückt die dünne Regenjacke noch enger an den Körper. „Die hat mir vorhin ein sehr freundlicher Besucher geschenkt“, berichtet sie. „Sie macht nicht wirklich warm, aber ich glaube, ohne die Jacke wäre ich erfroren.“
Viele schütteln nur noch resigniert mit dem Kopf. „So etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt eine junge Frau um Fassung ringend. „Das ist die Hölle.“
„Werden war von der Außenwelt abgeschlossen“
„Nur weg. Schnell nach Hause!“, ist der erste Gedanke, der einem durch den Kopf schießt, hat man das rettende Auto endlich erreicht. Mit „schnell nach Hause“ ist allerdings nichts. Die Bredeneyer Straße ist gesperrt; Richtung Kettwig erblickt man auf der Ruhrtalstraße eine endlose Schlange leuchtender Rücklichter. Also versucht man sein Glück Richtung Kupferdreh.
An einer Straßenecke klopfen drei Studenten an die Scheibe, bitten, nein, flehen darum, mitgenommen zu werden, „egal wohin“. Tja, wohin? Das Handy mit der Navigationshilfe hat völlig durchnässt den Geist aufgegeben, die Reiseroute wird nach Gefühl festgelegt.
Richtung Osten rollt der Verkehr immerhin. Schleichwege führen durch Wohngebiete, wo die Anwohner schon fleißig dabei sind, die gröbsten Schäden zu beseitigen und zumindest die Straßen frei zu bekommen. Doch oft hilft alles nichts. Gefühlt in jeder zweiten Straße blockiert ein umgerissener Baum die Fahrbahn. „Werden ist von der Außenwelt abgeschnitten“, prognostiziert ein Anwohner.
Aber irgendwie geht es über das Hespertal weiter. Auch wenn es voran geht, ist das Fahren anstrengend. Die Landstraßen sind übersät mit Zweigen und Ästen, nicht selten kann man Baumkronen nur knapp umrunden. Selbst so weit ab vom Schuss, trifft man regelmäßig auf Festivalbesucher, die zu Fuß einen Weg nach Hause suchen.
Engagierte und hilfsbereite Anwohner
Man kommt dem Ziel näher, doch immer wieder landet man in Sackgassen. Auch hier zeigen sich Anwohner engagiert. Mit Warndreiecken und zum Teil auch persönlich mit der Taschenlampe in der Hand signalisieren sie Autofahrern: Hier geht es nicht weiter.
Nicht weiter geht es auch nur wenige hundert Meter vor der Autobahnauffahrt. Einmal mehr ist ein Baum auf die Straße gestürzt (Hier treffen wir übrigens Rapper MC Fitty, der mit seiner Crew ebenfalls im Stau steht und kräftig mit anpackt.) Ein Laster versucht zwar, mit dem Abschleppseil das Hindernis zu beseitigen, kommt aber nicht voran.
Zurück nach Werden. Hier kriecht der Verkehr um kurz nach Mitternacht immerhin meterweise gen Kettwig. Gegen 1 Uhr nachts ist der Essener Hauptbahnhof, das Ziel der Studenten, endlich erreicht. Auf dem Vorplatz stehen rund 50 potentielle Fahrgäste und warten auf eines der raren Taxis. Fährt eine Limousine vor, wird der Fahrer direkt von dutzenden Menschen bestürmt. Weiterfahrt: Ungewiss.