Essen. Von einem auf den anderen Tag zählte für die Eltern der kleinen Nele nur noch der jeweils nächste Moment: Mit sechs Monaten wurde bei dem Mädchen ein bösartiger Hirntumor festgestellt, zwei Jahre lang musste sie sich Therapien unterziehen. Nele hat großes Glück gehabt: Sie gilt heute als geheilt.
Das Datum vergisst Tanja Schulten (Name geändert) nie: „Es war am 10. März 2010, als wir auf die Krankheit gestoßen sind.“ Ihre Tochter Nele war damals sechs Monate alt, ein zufriedenes Baby, höchstens etwas ruhiger als der große Bruder. Doch jetzt konnte Nele plötzlich nur noch nach unten sehen: „Sonnenuntergangsphänomen heißt das“, weiß die Mutter heute. Per Ultraschall stellte der Kinderarzt fest, dass Nele zu viel Wasser im Kopf hatte.
Eine Untersuchung im Krankenhaus in Duisburg ergibt, dass Nele einen Hirntumor hat. „Der verhinderte, dass das Hirnwasser, das jeder Mensch produziert, abfließen konnte“, erklärt Prof. Dr. Gudrun Fleischhack von der Klinik für Kinderheilkunde III der Uniklinik Essen. Bei Babys, deren Schädelnähte noch offen sind, schwillt der Kopf, der Druck führt oft zu Übelkeit, Kopfweh, Erbrechen. Nele hatte keins der Symptome gezeigt.
„Alle redeten vom nächsten Schritt – wir lebten nur im Moment.“
Nachdem durch eine Drainage überschüssiges Wasser abgeflossen war, normalisierte sich auch ihr Blick. Doch nach zehn Tagen kam das niederschmetternde Untersuchungsergebnis: Nele hatte einen atypisch teratoiden/rhabdoiden Tumor: ein rasch wachsender, extrem bösartiger Tumor, der meist bei Kleinkindern auftritt. „Wir standen total unter Schock, aber die Schwere der Krankheit konnten wir nicht erfassen“, sagt Tanja Schulten. „Alle redeten vom nächsten Schritt – wir lebten nur im Moment.“
Der nächste Schritt war die Operation, mit der 80 Prozent des Tumors entfernt werden konnten. Danach kam Nele zur Chemotherapie ans Uniklinikum Essen, eines bedeutenden Zentrums, das auf die Behandlung solcher Tumore spezialisiert ist und sich mit Experten weltweit austauscht.
Denn für Kinder sind Krebs-Therapien besonders belastend, müssen so schonend wie möglich dosiert werden. „Das ist der zweite Schock für die Eltern: Durch die Therapie selbst können Komplikationen ausgelöst werden, die lebensbedrohlich sind“, sagt Gudrun Fleischhack.
OP, Chemo, Strahlentherapie - nur wenige Kinder führen danach ein normales Leben
Wie sollten die Eltern da entscheiden, ob sie Nele nach OP und Chemo noch die Strahlentherapie zumuten? Nur 20 bis 30 Prozent der Kinder, die nach einem bösartigem Hirntumor all diese Behandlungsschritte erleben, werden eine normale Schullaufbahn haben, ein normales Leben führen.
„Wir haben uns für die Strahlentherapie entschieden, weil wir riesiges Vertrauen in die Ärzte hatten“, sagt Tanja Schulten. Da war schon ein Jahr seit der Diagnose vergangen: Nele meist in der Klinik, die Familie im Ausnahmezustand; die Großeltern halfen, dass der große kleine Bruder nicht zu kurz kam.
Es heißt, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Um ein Kind Monate oder Jahre durch eine Krebs-Therapie zu begleiten, braucht es demnach eine Stadt: Ärzte, Familie, Therapeuten, psychosoziales Team der Klinik. Zum Behandeln von Krebs und Angst, zum Anpacken und Trösten.
Heute besucht Nele den Kindergarten
Unterstützung für Betroffene und ihre Familien
Große Hilfe für Angehörige bietet die „Essener Elterninitiative zur Unterstützung krebskranker Kinder e.V.“. So können in ihrem Elternhaus in der Nähe der Uniklinik Familien wohnen, während ihre Kinder in der Klinik eine Krebstherapie absolvieren.
Die Essener Elterninitiative (www.krebskranke-kinder-essen.de) wirkt auch an der Tagung „Hirntumoren bei Kindern“ am 28./29. März im Haus der Technik mit. Veranstalter ist die Deutsche Kinderkrebsstiftung (www.kinderkrebsstiftung.de)
Für Nele lief es gut. Seit zwei Jahren ist die Behandlung beendet; Heute besucht die Vierjährige den Kindergarten, holt (mit Logo- und Ergotherapie) vieles rasch auf. Bis sie 18 ist, muss sie regelmäßig zu Nachsorge gehen. „Aber sie war und ist ein Sonnenschein, das hat uns durch diese schwere Zeit getragen.“ Andere Familien zerbrechen daran, sagt Gudrun Fleischhack. Andere Kinder sterben, weiß Tanja Schulten. „Mein Respekt vor der Krankheit ist geblieben!“ Wenn Nele sich erbricht, bangt sie, dass es nur ein Magen-Darm-Virus ist.
„Früher waren die Überlebenschancen mit einem solchen Tumor äußerst gering, heute liegen sie bei 40 bis 50 Prozent. Nele scheint die kritischste Zeit überstanden zu haben“, sagt Gudrun Fleischhack. Neles Mutter klopft auf Holz.
Tagung zu Hirntumoren mit betroffenen Kindern und ihren Eltern
„Hirntumoren im Kinder- und Jugendalter“ ist die Tagung überschrieben, die am 28./29. März im Haus der Technik, Hollestraße 1, in Essen stattfindet. Das klingt nach einer Fachveranstaltung, doch unter den 450 Teilnehmern sind gut 170 Eltern/Angehörige und 30 Kinder.
Seit 2004 werden Eltern zu der nationalen Tagung eingeladen, die alle zwei Jahre von der Deutschen Kinderkrebsstiftung in wechselnden Städten veranstaltet wird. Hier kommt das Behandlungsnetzwerk für Kinder mit Hirntumoren (HIT) zusammen, zu dem eben auch die Mütter und Väter der kleinen Patienten zählen: als Betroffene und weil ihr Mitwirken für Therapie und Nachsorge sehr wichtig ist.
Wenn die Eltern zu Profis werden
„Nach ein paar Wochen auf der Station sind die Eltern Profis“, sagt Prof. Dr. Gudrun Fleischhack (Uniklinikum Essen), wissenschaftliche Leiterin der Tagung. Während der Behandlung treffen sie viele Entscheidungen für ihr Kind, danach müssen sie über Therapie-, Pflege-, Diätvorschriften wachen.
Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund 2000 Kinder an Krebs, etwa 450 von ihnen haben Hirntumoren. Für die behandelnden Ärzte der verschiedenen Disziplinen ist der Austausch wichtig, um gezielte Behandlungsempfehlungen zu erstellen und Spätfolgen zu erfassen.
Wenige spezialisierte Zentren, die Hirntumore bei Kindern behandeln
Gerade die empfindlichen Organismen von Kindern werden durch Chemo- und Strahlentherapie erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Für jede Therapie gilt darum die Maxime: so intensiv wie nötig, so schonend wie möglich. Bundesweit gibt es wenige spezialisierte Zentren, die Hirntumore bei Kindern behandeln – eins davon am Uniklinikum Essen.
Die Experten tauschen sich regelmäßig aus. Auf der Tagung können alle an der Behandlung Beteiligten ins Gespräch kommen.