Essen. Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Ein sinnloser Bruderkrieg, der den gesamten Kontinent ins Verderben stürzte und den Keim legte für den nächsten Krieg. WAZ-Redakteur Marcus Schymiczek erinnert an seinen Großvater, der als Soldat im Ersten Weltkrieg Menschlichkeit bewies - und einen Arm verlor.
Ich erinnere mich an meinen Großvater als einen strengen, wortkargen Mann. Aber da war er schon über 90 Jahre alt, geistig nicht mehr frisch und ich noch ein kleiner Junge. Und natürlich erinnere ich mich an seinen rechten Arm oder an das, was meinem Großvater davon geblieben war: ein kurzer Stumpf. Wollte er eine Flasche öffnen oder ein Einmachglas, klemmte er es unter die rechte Achsel und schraubte den Verschluss mit der linken Hand auf. Mit nur einem Arm fertigte er sogar Schuhe an. Mein Großvater war einmal Schuster von Beruf.
Und dann war da dieses Schwarzweißfotografie an der Wand der kleinen Dachgeschosswohnung in Borbeck. Es zeigt einen Mann in den besten Jahren, eine stattliche Erscheinung wie man damals sagte. Der Mann trägt eine graue Ausgehuniform mit großen Manschettenknöpfen und Koppelgürtel. Auch das war mein Großvater. Ja, mein Großvater war Soldat im Ersten Weltkrieg, an dessen Ausbruch vor 100 Jahren wir uns 2014 erinnern.
Anfangseuphorie hielt nicht lang
Anfangs entfacht der Weltenbrand noch Feierstimmung. Als sich am Abend des 30. Juli 1914 die Meldung von der Mobilmachung Russlands verbreitet, strömen auch in der Essener Altstadt die Massen auf die Straßen. „Die Straßenbahnen hatten Mühe vorwärts zu kommen“, heißt es in der Essener Chronik. „In den überfüllten Restaurants und auch im Freien wurden patriotische Lieder gesungen.“ Jeder glaubte an einen kurzen, siegreichen Feldzug. Welch’ ein Irrtum.
Ihre Fotos und Feldpostbriefe, Erzählungen und Erinnerungen sind gefragt!
Lebende Zeitzeugendes Ersten Weltkriegs gibt es keine mehr, selbst die damals jüngsten Soldaten, die den Fronteinsatz überlebten, sind längst verstorben. Das heißt aber nicht, dass es in Essener Schubladen keine alten Fotos, Feldpostbriefe oder sonstigen Dokumente aus jener Zeit mehr gäbe. Auch Ihre persönlichen Erinnerungen an den Großvater oder Urgroßvater können hochinteressant sein und sind gefragt. WAZ-Redakteur Marcus Schymiczek hat auf dieser Seite beispielhaft die Geschichte seines Großvaters erzählt.
Wenn Sie, liebe WAZ-Leserinnenund Leser, Erinnerungen oder Erinnerungsstücke besitzen, dann bitten wir Sie um Kontaktaufnahme. Möglich ist dies per Email unter redaktion.essen@waz.de oder per Post an WAZ-Lokalredaktion, Sachsenstraße 36, 45128 Essen. Oder Sie rufen uns unter 804 8193 an. Aus der Hand geben brauchen Sie Ihre Erinnerungsstücke übrigens nicht unbedingt, es gibt auch andere Möglichkeiten.
Tags drauf läuten in der ganzen Stadt die Kirchenglocken, die Feuerwehr verbreitet es auf Plakaten: Das deutsche Heer macht mobil. Zu Tausenden melden sich Freiwillige an den Sammelstellen des Militärs. 9000 junge Männer werden im Laufe eines einzigen Tages allein im Schulhof an der Alfredi-straße „abgefertigt“. Komplette Schulklassen melden sich, um in den Krieg zu ziehen. „Die gesamte Oberprima der Humboldt-Oberrealschule stellte sich in den Waffendienst. Andere Primaner folgten ihrem Beispiel“, schreibt der unbekannte Chronist begeistert.
Meldete Großvater sich freiwillig?
Die Maschinerie des Ersten Weltkrieges erfasst das zivile Leben wie kein Krieg zuvor. Am Gerlingplatz werden Automobile und Pferde requiriert. Der Zirkus Sarasani, der zufällig in Essen gastiert, muss eine stattliche Zahl seiner Pferde dem Militär überlassen. Der Vaterländische Frauenverein näht Hemden für die Soldaten, das Rote Kreuz schult Freiwillige zu Krankenträgern. Ab Anfang August fahren die Straßenbahnen nicht mehr im Takt, zu viele Fahrer und Schaffner sind schon eingezogen, jeder zweite Reservist wird zu den Waffen gerufen.
Essen im Ersten Weltkrieg
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Und mein Großvater? War auch er im Rausch nationaler Begeisterung in den Krieg gezogen? Hatte er sich gar freiwillig gemeldet?
Seinem Naturell hätte das nicht entsprochen. Bei Kriegsausbruch ist er fast 30 Jahre alt. 1916 dient er als „Wehrmann“ in der 2. Garde-Infanteriedivision. Der einfache Dienstgrad spricht dafür, dass mein Großvater als Reservist mobilisiert wurde. Bei Kriegsbeginn beträgt die Ausbildungszeit für Reservisten noch zwei Monate, im Verlauf des Krieges sinkt die Drillzeit auf sechs Wochen. Der Krieg für „Kaiser und Vaterland“ forderte immer schneller frisches Blut.
Auf den Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkriegs
Die Division meines Großvaters wird an fast allen Kriegsschauplätzen eingesetzt. 1914 an der Marne, im Sommer 1916 an der Somme, wo während der britischen Offensive 1,2 Millionen Soldaten ihr Leben lassen, 1918 wieder an der Marne.
Mein Großvater gehört einer Behelfs-Mineur-Kompanie an. 1904 war er aus Oberschlesien ins Ruhrgebiet gekommen, wie so viele Zugewanderte arbeitete auch er im Bergbau, auf Zeche Prosper in Bottrop. Das kaiserliche Heer macht sich die Ausbildung der Bergleute zunutze. Im unterirdischen Vortrieb graben Mineure sich unter die gegnerischen Stellungen vor. Die Tunnel füllen sie mit Sprengstoff und jagen die Ladung in die Luft. Schon im Mittelalter hatten Armeen diese Art der Kriegsführung erprobt. Im Stellungskrieg der Jahre 1914 bis 1918 erinnern sich Strategen beider Seiten dieser Technik.
Im Januar 1915 wird meinem Großvater eine „besondere Anerkennung“ ausgesprochen, „weil er sich beim Bergen von zwei in einem Stollen verschütteten Kameraden unter schwierigen Verhältnissen durch Mut und aufopfernde Tätigkeit ausgezeichnet hat.“ So steht es auf einer Urkunde zu lesen, die ihm damals als Anerkennung für seine Tat überreicht worden war. Neben dem Foto, das ihn in Uniform zeigt, ist das Schriftstück das einzige verbliebene Zeugnis seiner Soldatenzeit. War mein Großvater ein Held? Er hat in einem Krieg, in dem das Leben eines einzelnen nicht viel wert war, etwas Menschliches getan, indem er Menschen half, die in Not geraten waren. Dafür bekam er einen Orden.
Den Wahnsinn überlebt
Was es hieß, für Kaiser und Vaterland in den Krieg zu ziehen, schildert ein anderer Soldat aus Borbeck in einem Feldpostbrief. Nach dem Sturm französischer Stellungen am 20. August 1914 schreibt Hugo Baumeister: „Rechts und links von mir lagen Tote und Verwundete. Es war ein furchtbares Jammern und Stöhnen.“ Auf dem Schlachtfeld findet Baumeister zwei verwundete Kameraden, auch sie stammen aus Borbeck. Einen der beiden kann er retten, der andere stirbt. „Er hatte bald ausgelitten. Die Wangen blass und eingefallen, das Auge schon gebrochen. Ich sah, dass es zu Ende ging.“ Baumeisters Regiment verliert an diesem Tag 1640 seiner 3300 Mann. Im April 1915 fällt auch Baumeister.
Mein Großvater hat diesen Wahnsinn überlebt. Bei Charleroi, wo seine Division sich 1918 auf dem Rückzug befindet, wird er schwer verwundet. 1,6 Millionen deutsche Soldaten waren da in diesem Krieg bereits gefallen, 260.000 galten als vermisst. Mein Großvater verlor seinen rechten Arm.
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