Essen. Ein neues Buch beleuchtet die Essener Architektur zwischen 1960 und der Gegenwart. Neben vielen Bau-Beispielen zeigen die Autoren, warum sich gerade diese Stadt der Moderne so bedingungslos hingab.

Echte Bildungsarbeit haben die Autoren schon mit dem ersten Band „Architektur in Essen“ geleistet. Jetzt stellen sie den zweiten vor, und da gilt es für manchen potenziellen Buchkäufer tapfer zu sein: Nicht jedem wird es einleuchten, wenn die Hochhäuser der 1960er Jahre, der Waschbeton der 1970er oder etliche Bauten der letzten Dekaden in den Rang von guter, zumindest aber interessanter Architektur erhoben werden. Ein Perspektivwechsel macht die Sache leichter: Es geht nicht um individuell empfundene Schönheit, sondern um die Frage, ob und wie die Architektur-Ideen und -Ideologien zwischen 1960 und 2013 in Essen zu baulicher Realität wurden. Und wie schon im Buch über die eingängigere Architektur zwischen 1900 und 1960 wird klar: Essen glich teilweise einem Laboratorium, in dem ambitionierte Architekten und Stadtplaner schalten und walten konnten, wie in kaum einer anderen Stadt.

Identitätsarme Stadt mit überforderten Kommunalpolitikern

Viele Beispiele sind bekannt und werden im Buch aufgezählt: Der Hochhausring um die Innenstadt, die A 40 mit ihrer selten kühnen Brutalität, die vielen Büro- und auch Privathäuser, die sich alle mehr oder weniger nüchtern gebärden, ohne dass man ihnen deshalb einen baukünstlerischen Ansatz absprechen sollte. Ornament ist schließlich kein Wert an sich, und auch eine elegante Glas-Aluminium-Fassade oder ein kubischer Bungalow können „schön“ sein. Das Buch zeigt wieso.

Erneut gefällt, dass das Autorenteam das Essener Geschehen analytisch sauber und einprägsam in die Strömungen der Zeit einordnet und so verstehbar macht. Als identitätsarme Stadt ohne starkes Bildungsbürgertum und mit biederen, vielfach überforderten Kommunalpolitikern war Essen um 1960 nahezu hilflos der faktisch allmächtigen technokratischen Elite ausgeliefert, die im Planungsamt die „neue Stadt“ propagierte und mit beträchtlicher Rabiatheit umsetzte.

Bürgerprotest gab es nicht - und auch die Medien waren brav

Die Stichworte: Trennung von Arbeiten, Wohnen und Erholung, „Auflockerung“ - also Abriss - gewachsener Stadtstrukturen, breite Verkehrsschneisen, Bauen in die Höhe, und eine Verachtung des Alten, die kalt und gnadenlos sein konnte. Wer all dies (zu Recht) kritisiert, mag aber bedenken, dass es Bürgerprotest und eine planungskritische Öffentlichkeit praktisch nicht gab. Auch WAZ und NRZ beispielsweise waren damals lammfromm allem Neuen ergeben, vereinzelte Melancholie („Lebe wohl, Altenhof!“, NRZ 1974) hat den Abriss etwa dieser schönen Krupp-Siedlung nicht verhindert.

Dennoch entstanden unter diesen Bedingungen beachtliche Bauwerke, die man allerdings „entdecken“ und verstehen muss. Dabei hilft dieses gelungene Buch.

Weniger umstritten als die kühle Moderne mit ihrer etwa in Steele durchexerzierten Schneisen-Mentalität dürften jene Bauten und Ensembles sein, die in den letzten 20, 30 Jahren entstanden sind. Vorausgegangen war ein grundlegender Wandel: Auch in Essen wurde ab etwa 1980 erst zaghaft, dann immer offensiver das Planen und Bauen auf eine breitere Grundlage gestellt - erzwungen nicht zuletzt von selbstbewusster werdenden Bürgern, Politikern und Medien.

Der Kampf um die Lichtburg markierte den Wandel

Den Kampf um die Lichtburg sehen die Autoren als Paradigmenwechsel. Bis zuletzt hatten Vertreter der alten Garde wie der von 1982 bis 1995 amtierende Oberstadtdirektor Kurt Busch hier nur ein weiteres Grundstück für die „Einkaufsstadt“ sehen können.Was seit dieser Zeit gebaut wurde, ist aus Sicht der Autoren beachtlich und geschah weitgehend konfliktfrei, egal ob man nun an das Thyssen-Krupp-Quartier oder den Eon-Neubau, die letzte Messe-Erweiterung oder das RWE-Hochhaus denkt. Und das sind nur die augenfälligen Gebäude. Die Autoren sind mit offenen Augen durch die Stadt gegangen und haben vieles entdeckt, das erst auf den zweiten Blick wirkt - darunter auch manches Überraschende. Einfach mal drauf einlassen, wäre der Rat.