Essen. . Das Problemhaus am Rand der nördlichen Innenstadt leidet unter einem schlimmen Geburtsfehler. Es war Mitte der Sechziger als modernes Bürogebäude geplant und musste in letzter Minute auf Appartement-Komplex umgetrimmt werden. Der Miteigentümer stemmt sich mit allen Kräften gegen den Niedergang.
Viehofer Platz 15, das „Problemhaus“. Hoch droben ist die Aussicht an diesem sonnigen Wintermorgen faszinierend: Silbrig glänzend die Skyline, majestätisch der Welterbe-Doppelbock von Zollverein, nur ein weißer Punkt die Schalke-Arena. Darunter aber erstreckt sich über elf Stockwerke eine beklemmende Tristesse: ein städtebaulicher Störfall nah am Totalschaden.
In den Fenstern hängen zerknitterte Bettlaken mit Grauschleier. Oder schwarz-rot-goldene Fahnen. In vielen hängt gar nichts. Gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit verbreitet die finstere Fassade nachts noch mehr Unbehagen. Elfriede Bieler, Hausverwalterin mit Büro im Erdgeschoss, bestätigt das Sichtbare: „Nur die Hälfte ist vermietet.“
Ein verhängnisvoller Geburtsfehler
Das Monstrum ist ein „Schandfleck“. Manche nennen es „Tirana“. Und wenn sie in der Kneipe vis-à-vis vom „Asi-Hochhaus“ sprechen, weiß jeder sofort, was gemeint ist. Selbst Miteigentümer Peter Thunnissen aus Düsseldorf, der erfolgreich in Immobilien macht und soeben eine Kirche in einen schicken Kindergarten verwandelt hat, leidet an dem Problemhaus, das ihm sein Vater vermacht hat. Er zuckt die Achseln und sagt: „Was wollen Sie denn machen, wenn einem solch’ ein Haus vor die Füße fällt?“.
Der ungeklärte Mord an der Verkäuferin Elke Wenda
Am 5. Januar 1979 wird das Hochhaus Schauplatz eines Kapitalverbrechens. Ein Unbekannter hat die Boecker-Verkäuferin Elke Wenda (33) im Treppenhaus zwischen der 8. und 9. Etage gewürgt und mit mehreren Stichen ins Herz ermordet. Nach Erkenntnissen der Mordkommission ist die Bluttat zwischen 18.40 und 20.15 Uhr passiert. Obwohl 200 Menschen in dem Haus leben, bekommt niemand etwas mit von Elke Wendas Todeskampf. Verdächtigt wird ihr Verlobter, mit dem sie ein Appartment im 10. Stock teilt. Doch der sitzt zur Tatzeit vor dem Fernseher. Der ungeklärte Mordfall gibt der Polizei bis heute Rätsel auf.
Es ist ein verhängnisvoller Geburtsfehler, der dem „Patienten“ so sehr zusetzt. Mitte der Sechziger, angefeuert vom Wirtschaftswunder, will Thunnissen senior am Rand der Nordcity eigentlich ein modernes Bürogebäude hochziehen. Doch schon in der Rohbauphase geht der Kardinalmieter pleite und der alte Thunnissen muss das Stahl-Beton-Skelett in seiner Not hastig auf Appartementblock trimmen: mit 100 schlichten Single-Wohnungen à 25 bis 30 Quadratmeter.
"Das ganze Viertel ist verrufen"
Im Haus Nr. 13 nebenan hängen blütenweiße, akkurat gesteckte Gardinen in geputzten Fenstern. Hans-Dieter Schenkel ist nicht nur der Besitzer, er wohnt hier auch. Die Malaise im Nachbarhaus verfolgt er schon seit bald fünf Jahrzehnten. „Da war von Anfang an der Wurm drin“, sagt er, „aber in letzter Zeit ist es noch schlimmer geworden, das ganze Viertel ist verrufen.“
Die Liste der Klagen ist lang. Von Aschenbechern und Dessous, die schon mal aus Fenstern flögen, ist die Rede. Von Prostituierten und Zuhältern, die hier einst gerne wohnten. Von Obdachlosen, die im Flur eine Bleibe nur für eine Nacht suchten. Von Zechbrüdern, die ins Treppenhaus pinkelten. Von der reparaturbedürftigen und gesperrten Tiefgarage. Von Sperrmüll und von einer Fluktuation wie im Taubenschlag. Und, ach, von den Drogenhändlern hinten am Bahndamm.
Problemhaus mit Aussicht
Mit dem ruinierten Ruf ist es wie mit der vergilbten Gardine, aus der sich das Nikotin partout nicht mehr rauswaschen lässt. „Natürlich sortiere ich aus“, betont Elfriede Bieler, „wer mit ‘ner Fahne kommt, der kriegt hier nix.“
Mit allen Kräften gegen den Abwärtssog
Tatsächlich sieht’s drinnen besser aus als vermutet. Seitdem zwei Reinigungskräfte ständig Etage für Etage putzen, sind die langen, von Dauer-Neonlicht erhellten Flure blitzblank, und auch die Aufzüge funktionieren. Man spürt: Thunnissen, der Eigentümer, stemmt sich mit Kräften gegen den starken Abwärtssog. Er sagt: „Finanziell halte ich mich hier so gerade über Wasser.“
Wohlfühladresse: die Sauna über den Dächern von Essen
Das waren noch Zeiten: In der elften Etage betrieb ein Essener vor Jahrzehnten ein beliebtes Bäder- und Saunazentrum. Zusätzlich zu Aufgüssen und Massagen gab’s einen beeindruckenden Blick über die Dächer der Ruhrmetropole. Ein Sprung ins Schwimmbecken rundete den Saunaspaß ab. Längst hat die Wohlfühladresse dichtgemacht. Heute ist die elfte Etage als Appartement vermietet. Der jetzige Wohnungsinhaber freut sich über eine geräumige Terrasse mit Gartenstühlen und Sonnenschirmen, mit Buchsbäumen und sehr viel Horizont.
Inmitten von soviel Grau hebt sich Appartement 59 ab wie ein Farbtupfer. Durch die Jalousie fallen Sonnenstrahlen aufs warme Landhaus-Laminat. „Ich fühle mich wohl hier“, sagt die Witwe Danielle Doutrelepont, eine Französin, die vor anderthalb Jahren einzog. „Ich mache die Tür hinter mir zu und kümmere mich um niemanden. Voilà.“
Viele Interessenten machen einen weiten Bogen um das „Problemhaus“. Kaum zu glauben: Obwohl die Uni nur einen Steinwurf entfernt ist und in diesem Herbst gar einen doppelten Erstsemester-Jahrgang aufnehmen musste, wohnt hier nicht ein einziger Student. Nicht nur der schlechte Ruf schreckt ab, sondern auch die gewaltigen Heizkosten. Klar: Die alten, einfachverglasten Alu-Fenster müssten dringend ausgetauscht werden. „Aber dann muss ich die ganze Fassade gleich mitmachen“, stöhnt Peter Thunnissen. Fünf, sechs Millionen Euro würde eine gründliche Sanierung kosten, überschlägt er, doch dafür könne er den ganzen Block genauso gut abreißen und einen Neubau hinsetzen. Aber die Miteigentümerin, eine betagte Dame, denke nicht daran zu investieren. Also verkaufen? „Das haben wir vor ein paar Jahren vergeblich versucht“, erwidert er. Und legt seine Stirn schweigend in Falten.