Essen. . Mitarbeiter ambulanter Pflegedienste klagen über den Minuten-Takt, den sie ihren Patienten zumuten. Mehrere hundert von ihnen zogen Mittwoch unter dem Motto „Hilfe! Mehr Zeit für Pflege“ zu den örtlichen Zentralen der Krankenkassen und machten sie auf die schlechten Rahmenbedingungen aufmerksam.
Die vorwurfsvolle Frage ihrer „Kunden“, ob sie wirklich schon wieder weiterziehen müssen, hören Ulla und Jasmin jeden Tag. Die eine ist für einen ambulanten Pflegedienst im Essener Süden unterwegs, hat 24 Berufsjahre auf dem Buckel, die andere zuckelt mit Pflegedienst-Kleinwagen durch den Osten der Stadt und hat neun Jahre Erfahrung. Sie einen, wie wohl die meisten Frauen, die am Mittwoch in der Innenstadt demonstrieren, die strengen Zeitabläufe, die sie für ihre Tätigkeiten haben. Die hängen auch von der Pflegestufe ihres jeweiligen Patienten ab. „Drei Minuten für die Medikamentengabe oder vier Minuten fürs Strümpfe ausziehen – und zwar bei alten Menschen, die eben nicht mehr so schnell können“, erzählt Ulla von ihrer sechsstündigen Spätschicht, bei der sie durchaus mal 30 ältere Menschen aufsucht.
Viele opfern Freizeit
Ebenso sieht es Jasmin: „Versuchen Sie mal, in zehn Minuten einen gebrechlichen Menschen zu duschen – mit Aus- und Anziehen.“ Wertvolle Zeit, so kritisieren es auch viele Plakate der Protestler, gehe für die Dokumentation drauf, bei der die Mitarbeiterinnen für Arbeitgeber und Krankenkasse protokollieren, was sie wie lange bei welchem Pflegepatienten gemacht haben. Beraten, telefonieren, aufschreiben, fahren, Rezepte bei Ärzten abholen und in der Apotheke einlösen: „Wer zu lange braucht oder sich zu viel Zeit nimmt, muss sich rechtfertigen“, erklärt Ulla. Die Zeit, die sie zu viel braucht, wird nicht bezahlt. Manchmal opfere sie ihre Pause, um weniger Stress zu haben.
Auch Jasmin ist dazu übergangen, einen Teil ihrer Freizeit zu opfern, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, und für ihre Patienten da zu sein. Auf fünf ehrenamtliche Stunden zusätzlich zur 40 Stunden-Woche schätzt sie ihr Engagement – mal mehr, mal weniger. Frustrierend sei das, ihren Job mache sie dennoch gerne: „Man kann das, was ich mache, sowieso nicht in Geld aufwiegen, doch ausreichend bezahlt ist es trotzdem nicht.“ Ulla nickt und erzählt von der Wut von Angehörigen, wenn man mal zu spät komme: „Viele sehen nur ihren Vater oder ihre Mutter – und denken nicht daran, zu wie vielen anderen Menschen wir auch fahren müssen. Der Blick fürs Gesamte geht dabei verloren.“
Mehr Personal, mehr Geld und vor allem mehr Zeit – mit diesen Forderungen treten sie und ihre Kolleginnen gestern an die Krankenkassen heran. „Wir beklagen die Verweigerungshaltung der Kassen, etwas an den Rahmenbedingungen zu ändern“, sagt Andreas Meiwes, Direktor der Caritas im Ruhrbistum. Neben der Arbeitsverdichtung für die Mitarbeiter führt er eine Kostenversteigerung von 20 Prozent zwischen 2002 und 2012 durch Tarifabschlüsse und Lohnnebenkosten an. Dieser stehe eine Anhebung der Vergütung von nur sieben Prozent gegenüber. 60 Protestaktionen werde es in NRW in den nächsten zwei Wochen geben.
In Essen haben sich die Verantwortlichen für ein „Zeitschwein“ entschieden, das wie ein Sparschwein mit Zeit gefüttert werden muss – der Kopf ist eine Uhr, die auf fünf vor zwölf steht. Beim Demozug zur AOK an der Friedrich-Ebert-Straße, zur BKK an der Kronprinzenstraße und zur Knappschaft an der Heinickestraße versuchen sie es abzugeben – vergeblich. Es bleibt jeweils einsam vor den Eingängen stehen.