Essen. Fahnder und Bezirksbeamte haben gut zu tun: Bis zu 3000 Haftbefehle werden Jahr für Jahr durchgesetzt.
Manchmal sind es Milieustudien bis aufs Messer, wenn die Staatsgewalt an den Haustüren der Gesuchten dieser Stadt klingelt. Widerstand ist zwecklos. Doch vor allem Jugendliche „überdrehen völlig“, sollten ihnen Lothar Gerbracht und dessen Kollegen von der Personalfahndung der Polizei die Gewissheit überbringen: Gesucht, gefunden. Was heißt: Gefängnis, Gewahrsam oder Arrest.
Meist jedoch ist die Situation eine völlig entspannte, fast wie beim Besuch von Bekannten, wenn die Kripoleute oder einer von rund 80 Bezirksbeamten einen Haftbefehl gegen Beschuldigte vollstrecken, die über Wochen oder Monate versucht haben, Geldbußen oder Freiheitsstrafen zu entgehen. Manchmal war es die blanke Ignoranz. Doch das Motiv fürs Versteckspiel mit den Verfolgern spielt in diesen Kriminal-Fällen eine ungewohnte Rolle: keine.
"Früher oder später kriegen wir sie"
Für Ralf Mohr, der seinen Dienst im Bezirk Altendorf versieht, gilt nach Jahrzehnten der Berufserfahrung vielmehr das „Danone“-Prinzip, wenn’s um den Vollzug des dienstlichen Auftrags auf knallrotem Papier geht: Egal ob internationaler, Untersuchungs-, Vorführ- Vollstreckungs- oder Erzwingungshaftbefehl – „früher oder später kriegen wir sie“, sagt er – vom notorischen Gurkendieb über die schwärzesten aller Schwarzfahrer bis hin zum Gelegenheits-Mörder.
Es ist durchaus beeindruckend, was da Jahr für Jahr im Netz der Essener Fänger zappelt: Über 2000 Haftbefehle werden allein durch den Bezirksdienst, die Beamten vor den Haustüren, in dieser Stadt vollstreckt. Hinzu kommen geschätzte 800 an der Zahl mit einem drohenden Freiheitsentzug von über einem Jahr oder einer Geldstrafe von über 100 Tagessätzen, für deren Umsetzung sich in der Regel die sechs Kripoleute von der Personalfahndung zuständig fühlen.
Lothar Gerbracht ist Sachratenleiter der Abteilung Personalfahndung, seit über 30 Jahren dabei und ab und an im Ausland unterwegs, um mit internationalem Haftbefehl gesuchte und in der Fremde aufgeflogene Straftäter in Empfang zu nehmen.
Nicht jeder kann untertauchen
Ein eher seltenes Unterfangen. Nur die besonders dicken Fische haben Grund und Geld genug, im Irgendwo dieses Planeten unterzutauchen. Die kleinen Verwandten dieser hochkriminellen Spezies sind da weitaus verbreiteter. Ausgestattet mit ganz anderen Wesensmerkmalen, dürften sie manchen Beobachter überraschen. So zeigen sie sich oftmals dankbar, wenn ihnen die Polizei durch eine Festnahme eine schwer wiegende Last von der Schulter nimmt: sich verfolgt zu fühlen und bei jeder Streife, derer sie angesichtig werden, hinters nächste Auto werfen zu müssen. Ist doch kein Leben, sowas.
Meint auch Mohr: Wer ständig in der Angst lebt, erwischt zu werden, „bei dem liegen irgendwann einfach die Nerven blank“. Das führt zu wundersamsten Verhaltensweisen: Unter den bekannten Wohnadressen kommt es durchaus vor, dass ein Koffer mit den wichtigsten Utensilien für einen Knastaufenthalten bereits fertig gepackt hinter der Tür steht. Dann weiß der Bezirksbeamte nach vielleicht vielen vergeblichen Hausbesuchen ziemlich sicher, dieses Mal erwartet worden zu sein.
Man versucht es mit Ausreden
Andere sind gesprächig, versuchen’s mit Ausreden – „Sie werden’s nicht glauben, aber ich wollte gerade zur Staatsanwaltschaft gehen“ – oder wundern sich, warum sie heute schon wieder zur Kasse gebeten werden, obwohl sie doch gestern erst 1500 Euro bezahlen mussten. „Tja, vielleicht deshalb, weil bei ihnen eine ganze Menge aufgelaufen ist“, sagt dann Mohr mit Blick auf den Küchentisch des Delinquenten, wo sich die ungeöffneten Briefe stapeln. Das ist ein untrügliches Zeichen für ein ausgeprägtes Bulldozer-Verhalten: Dieser Mensch schiebt alles vor sich her, weil er mit seinem Leben überfordert oder es ihm gleichgültig geworden ist.
Perspektivlosigkeit hat inzwischen „in vielen Brennpunkten dieser Stadt“ das Sagen, und nicht nur Gerbracht findet sich oft wieder in der Rolle des Sozialarbeiters, die seine nicht sein sollte. Die Beamten erleben traurige Schicksale, und mancher bemüht sich dann und wann um eine weitere Ratenzahlung bei der Staatsanwaltschaft, um weniger schweren Jungs oder Mädels den Gang hinter Gitter ersparen zu können.
Ist es tragisch, ist es komisch? Etwa wenn sich eine Schwarzafrikanerin in einer Zimmerecke unter einem Lampenschirm als Beleuchtungsmöbel tarnt, oder der polizeibekannte Hooligan, der sich am Tag zuvor am Stadion abgewendet hat, am nächsten bekennt: „Tschuldigung, Herr Mohr, dass ich gestern nicht gegrüßt habe. Was hätten denn meine Kumpels mit mir gemacht...“ Wahrscheinlich hätten sie den Kerl verhaftet – auf ihre Weise.