Essen. Während die Politik im Hintergrund über die Finanzierung streitet, hat der Strategieprozess „Essen 2030“ seine erste Zwischenetappe erreicht. Wer revolutionäre Ideen erwartet hatte, dürfte arg enttäuscht sein.
Der erste Reflex ist ein ungläubig dahingemurmeltes „Das soll alles sein?“ Die Innenstadt als pulsierendes Zentrum ausbauen, den Konzernstandort stärken, die „Vielfalt als Chance nutzen“, Fachkräfte ausbilden und binden – gähn. Spötter könnten formulieren, da fehlte nur noch ein „Wohlstand für alle“-Eintrag und der Weltfrieden auf der bunten To do-Liste.
Und die in der 22. Rathaus-Etage versammelte Mannschaft tut erst gar nicht so, als könnte sie derlei Skepsis überraschen: „Auf diesen Vorwurf ,Das sind doch nur Allgemeinplätze’ sind wir mental vorbereitet“, sagt Axel Koschany, Rüttenscheider Architekt und einer von fünf Paten, die auf dem Weg zu einer Strategie für „Essen 2030“ jeweils ein Handlungsfeld unter ihre Fittiche nehmen.
Nein, wenn eine Stadt zum Zwecke der Selbstvergewisserung innehält und sich fragt: Wo wollen wir in den nächsten 18 Jahren eigentlich hin? Dann dürfe man „nichts Revolutionäres“ erwarten, im Gegenteil: Dann geht es darum, „Selbstverständlichkeiten auf den Punkt zu bringen“, so Koschany, oder, wie Oberbürgermeister Reinhard Paß es umschreibt: Es geht darum, „Leitplanken einzuziehen“, an den die Entscheidungsträger sich ausrichten.
Menschen ticken hier nicht anders
Und Leitplanken sind nun mal nicht spannend. Reinhard Wiesemann hat damit kein Problem, für ihn ist das Bemerkenswerte an der Ideensuche im Rahmen von „Essen 2030“, dass dieser Prozess „nicht im stillen Kämmerlein stattfindet, sondern offen organisiert ist“. Und dass in Essen „zu 90 Prozent die gleichen Ziele herauskommen, wie in jeder anderen Stadt“ – na und? Das zeige doch nur, dass die Menschen ähnlich ticken, und dass es am Ende um Wettbewerb geht.
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Vera Schwarzer, Patin für das weite Feld der Wirtschaft („Essen erfolgreich“) hat dies am eigenen Leib gespürt und bricht eine Lanze für Existenzgründer, die in Essen keineswegs einen roten Teppich vorfänden: „Ich bin fast verrückt geworden auf dem Weg durch die Institutionen.“ Gefahr erkannt – aber das heißt noch lange nicht: Gefahr gebannt. Denn so sehr man sich schon an den Gedanken gewöhnt hat, „quer zu den Ressorts zu arbeiten“, wie Björn Bloching von der Unternehmensberatung Roland Berger sagt, in der Feinarbeit erweist sich erst, in welcher Rangfolge die vielen Ziele einsortiert werden.
Bis März ein Feinkonzept
Denn klar ist: Bei aller Zettelwirtschaft, an der sich mehr als 5200 Bürger zum Thema „Essen 2030“ beteiligt haben – verzetteln will man sich nicht auf dem Weg in die Zukunft der Stadt, zumal angesichts maroder Stadtfinanzen. Man wird also Prioritäten setzen müssen – und damit naturgemäß Enttäuschung bei denen hervorrufen, die ihr Thema gerne weiter vorn sähen.
Für Oberbürgermeister Reinhard Paß nichts Neues: „Das ist das, was Politik und Verwaltung ständig machen: Enttäuschungen produzieren.“ Was wohl auch untereinander gilt. Denn wo man gestern bei der Präsentation noch die Einigkeit in der Politik beteuerte (die mancher auf NRZ-Nachfrage später in Abrede stellte), wird es spätestens im März, wenn dem Rat der Stadt auch das Feinkonzept vorliegt, um politische Mehrheiten und die Frage gehen, wer sich mit welchen Zielen durchsetzt.
Dann geht es um die klassischen Konfliktfelder: Wohnen oder Gewerbe oder Grün? Autobahn bauen oder nicht? Auf Architekten-Wettbewerbe verzichten? Sparen bei Musik- und Volkshochschule? Soziale Angebote streichen? Da muss der Weltfrieden noch warten.
Die Ziele für Essen.2030
Essen.urban:
- Innenstadt als pulsierendes Zentrum ausbauen
- Lebendige Stadtteile und Quartiere entwickeln
- Ansprechendes Stadtbild und hochwertige Architektur schaffen
- Attraktiven Wohnraum bieten
- Integrierte Mobilität etablieren
- Klimaverantwortung übernehmen und intelligenten Umgang mit Ressourcen sichern
- Herausragende Angebote für die Freizeit gestalten
Essen.erfolgreich:
- Vernetzten Innovationsstandort schaffen
- Konzernstandort stärken
- Dynamischen Standort für den Mittelstand gestalten
- Flächen und Infrastruktur bereitstellen
- Qualifizierte und talentierte Menschen anziehen und halten
Essen.talentiert:
- Vielfältige, leistungsstarke und vernetzte Bildungslandschaft anbieten
- Praxisorientierten Wissenschaftsstandort etablieren
- Fachkräfte ausbilden und binden
- Individuelle Begabungen entdecken und fördern
- Soziale Benachteiligung ausgleichen
- Kulturelle Vielfalt im Bildungssystem verankern und als Qualitätsmerkmal vermitteln
- Umfassendes Bildungsmonitoring ausbauen
Essen.vielfältig:
- Vielfalt als Chance nutzen
- Respektvolles und aktives Miteinander schaffen und fördern
Essen.engagiert:
- Bürgerbeteiligung und -teilhabe als Grundkonsens etablieren
- Bürgerschaftliches Engagement aktivieren und institutionalisieren
- Gegenseitige Unterstützung von Vereinen, gemeinnützigen Organisationen, Einzelpersonen und Stadtverwaltung fordern, fördern und vorleben