Essen.

Man schaut derzeit gern nach oben in der Essener Innenstadt, da wo seit einigen Tagen die neuen Motive der Essener Lichtwochen hängen. Die Häuser, an denen die Lichterketten angebracht sind, beachten die wenigsten. Warum auch? So schön sei sie nicht, die Innenstadt, sagen die meisten. Gesäumt ist sie zumeist mit farblosen Nachkriegsbauten, schnörkellosen Häusern mit glatten Fassaden. Kaum ein Essener, der nicht bedauert, dass die Innenstadt nach den Kriegsschäden fast komplett neu erbaut wurde.

Aber auch Architektur, die man nicht schön findet, kann man versuchen zu verstehen. Das ist das Anliegen von Benedikt Boucsein, einem Architekten, der sich der „Grauen Architektur“ widmet, wie er sie nennt. Am Samstag führte er rund 30 Interessierte durch das Essener Zentrum, um ihnen die Bauphilosophie der Nachkriegszeit näher zu bringen.

Denn die gab es durchaus. Das Heroldhaus am Kennedyplatz etwa, in dem vor einigen Monaten das „Motel One“ einzog, kann als Paradebeispiel eines zwar nüchternen, aber zurückhaltend eleganten Stils gelten. Nicht von ungefähr steht es unter Denkmalschutz.

Das Uniforme und Geschwungene

Grau ist es allerdings dennoch. „90 Prozent unserer Städte bestehen aus dieser grauen Masse“, sagt Boucsein, was im Fall Essen ungefähr dem Anteil der Innenstadt entspricht, der zerstört wurde. Das Besondere hervorzuheben fällt in dieser grauen Masse naturgemäß nicht immer leicht. Aber da gibt es dennoch einiges: Serien gleichförmiger Fenster stehen für das Uniforme, die Türen beispielsweise nehmen aber gern die weichen Formen der 1950er Jahre auf und haben oft einen Schwung, der erstaunt.

Natürlich gibt es auch ganz anspruchslose Bauten, ohne besondere Ästhetik. Ihr Zweck bestand darin, rasch Raum für Geschäfte zu schaffen und die Stadt überhaupt wieder zu errichten. „Die Vermietung war finanziell interessant. Man baute pragmatisch modern“, sagt Boucsein. Stand das Gebäude vielleicht noch als Ruine und fehlten Obergeschosse, wurde nicht lange gefackelt. Oft setzte der Bauherr unpassende Stockwerke drauf.

Das Baedeckerhaus in der Kettwiger Straße gehört zu den wenigen Gebäuden, die die Bombardierungen überlebten. An den drei schmalen Häusern links davon, direkt der Lichtburg gegenüber, sieht Boucsein die Charakteristika der Nachkriegs-Schnellarchitektur idealtypisch verewigt. Da ist das lilafarbene Gebäude, in dem sich ein Modegeschäft befindet. Die Fassade ist glänzend, die Fenster im Querformat. Das Obergeschoss hat mit seinen grauen Wänden einen völlig anderen Stil als der Rest des Gebäudes. Es ist das zuletzt errichtete in dieser Reihe. Das Haus nebenan entspricht laut Boucsein eher den NS-Plänen für den Wiederaufbau: eine weiße, gradlinige Front, farblich umrahmte hochkantige Fenster.

Das dritte wiederum ist eine Mischung aus beiden Stilen. Boucsein sagt: „Die Bebauungspläne wurden oft umgangen.“ Die Bauämter seien mit den vielen Anträgen, die nach dem Krieg gestellt wurden, überfordert gewesen. So entstand ein uneinheitliches Stadtbild.

Einige Gebäude weiter in Richtung Hauptbahnhof haben die Bauherren den Erker eines Hauses aus der Gründerzeit ausnahmsweise belassen und ihn mit grauen Baustoffen verkleidet. Wieder einige Meter weiter wird das Haus am Kettwiger Tor, ebenfalls ursprünglich aus den 1950er Jahren, derzeit umgebaut.

Wieder wird dort etwas Neues entstehen und wieder wird der Mix aus Bauarten in der Innenstadt bunter werden. „Man lernt, die Stadt mit anderen Augen zu sehen“, sagt Gerhard Bröring auf dem Weg dorthin. Er war Bauingenieur und interessiert sich sehr für die architektonische Entwicklung seiner Stadt. „Sonst schaut man ja nur auf die Geschäfte.“