Essen. Der von der Stadt angestoßene Strategieprozess „Essen 2030“ ist der rührende Versuch, mit Strukturprozessen nachzuholen, was vielen Akteuren fehlt: Leidenschaft, Selbstwertgefühl, Sinn für Qualität im Detail. Eine Analyse.

Reinhard Wiesemann ist ein Typ, der kein Blatt vor den Mund nimmt: Bei 570 000 Einwohnern und hohem Aufwand der Stadt sei es schon „erstaunlich“, wie wenige Bürger sich am Prozess „Essen 2030“ aktiv beteiligen, bemerkte jüngst der Betreiber des Unperfekthauses. Kaum 200 registrierte Benutzer wies das Portal „www.essen2030.de“ bis Freitag aus, das so etwas wie das zentrale Mitmach-Medium sein soll. Das ist nicht nur erstaunlich, das ist ernüchternd. Die Bürger verstehen offenkundig nicht, was sich hinter der Formel verbirgt, weil die städtischen Vertreter mit dem Oberbürgermeister an der Spitze es bisher nicht schaffen, es ihnen mit einfachen, aber mitreißenden Worten zu erklären.

Nirgendwo wäre solche kommunikative Anstrengung aber nötiger als in einer Ruhrgebietskommune wie Essen, in der sich Bürgersinn und Identifikation mit der eigenen Stadt traditionell deutlich weniger von selbst verstehen als beispielsweise in Münster oder Düsseldorf. „Der Essener ist eben in erster Linie ein Stadtteilmensch“, seufzt der Architekt Axel Koschany, wie Wiesemann einer von fünf „Botschaftern“ des 2030-Prozesses.

Mangelndes Selbstbewusstsein

Diese Stadtteilorientierung hat gewiss auch ihr Gutes. Für den Zusammenhalt nach innen und das Selbstbewusstsein nach außen ist es allerdings nicht gerade ideal, zumal der Stadt-Gedanke in Essen noch von anderer Seite unter Druck kommt. Alle Revierstädte - die kleinen noch mehr als die großen - sind auch gebeutelt von einer verquasten Diskussion, die nun seit Jahrzehnten in die Köpfe zu hämmern versucht: Ihr seid nichts, die Region ist alles. Vom heutigen Bundestagspräsidenten, dem Bochumer Norbert Lammert abwärts haben unzählige Akteure damit faktisch einer Schwächung der Städte das Wort geredet, oft standen durchsichtige organisationspolitische Eigeninteressen Pate, etwa beim aufgeblähten Regionalverband Ruhr.

Eine akademische Betrachtung? Nein, denn sie hat ganz konkrete Folgen. Die Lieblosigkeit, mit der Essen das eigene Stadtbild behandelt, zeugt von mangelndem Selbstbewusstsein und fehlendem Stolz auf das Eigene. Wenn Essener Politiker beim Thema Schwimmbad-Neubau auf dem Thurmfeld mit den Worten zitiert werden, es sei doch nicht so wichtig, wie der Bau von außen aussehe, Hauptsache es sei genügend Wasser in den Becken, zeugt das von einem ignoranten Provinzialismus, der weh tut. Gut, dass einige Bürger - es sind nur zu wenige - solche selbstgenügsame Piefigkeit zurückwiesen.

Fehlender Stadtpatriotismus

Es ist eben nicht egal, wie die bebaute Stadt aussieht, und das nicht nur, damit die einheimischen Bürger sich wohlfühlen. Nur eine Stadt, die sich selbst achtet, wird auch Zuzügler von außen überzeugen können. Und das hat keine Stadt in Deutschland so nötig wie Essen, weil keine andere dieser Größe derart massiv unter Abwanderung litt und weiter leidet. Wegzug hat nicht nur etwas mit harten Fakten wie fehlenden Arbeitsplätzen zu tun, sondern vielleicht mehr noch mit einem Mangel an Gefühl, mit fehlendem Stadtpatriotismus. Es ist alarmierend, wie umstandslos viele Essener Bürger ihrer Stadt den Rücken kehrten.

Deshalb ist alles zu begrüßen, was in Essen die Qualität hebt. Mit guter Architektur fängt es an, und mit gepflegten Grünanlagen hört es noch lange nicht auf. Der verstorbene OB Joachim Erwin, dem Düsseldorfs Aufstieg aus langer Agonie zu verdanken ist, hat höchstpersönlich seinen Ämtern Beine gemacht, um die städtische Qualität zu heben. Wenn das bei „Essen 2030“ herauskommt - wunderbar. Mehr Leidenschaft der einzelnen städtischen Akteure, mehr Liebe zur Stadt, mehr Kümmern um Details wäre dafür aber noch wichtiger als ein leider ziemlich blutleerer Strukturprozess.