Essen. . Wohin soll die Reise gehen? Im Strategieprozess „Essen.2030“ überlegen Wirtschaft, Politik und Verwaltung gemeinsam mit den Bürgern der Stadt, wie ihre Zukunft aussehen soll. Den Anfang macht die junge Generation – in einem Zukunftsworkshop.
Kostenfreier Nahverkehr, eine autofreie Stadt, dazu ein gläsernes Rathaus und fliegende Ärzte, Chancengleichheit in Ausbildung und Beruf, den Baldeney- als Badesee und viele kleine Läden statt großer Einkaufstempel aus Stahl und Beton vor der Haustür – wer Visionen wie diese hat, für eine lebenswerte, moderne Stadt, ist im Rathaus richtig – bei Reinhard Paß. Schließlich steht der Oberbürgermeister dem Steuerungskreis von „Essen.2030“ vor, dem Strategieprozess für die Stadt Essen von morgen und übermorgen. Und weil er mit 56 Lenzen nicht mehr zu den jüngeren Semestern zählt, setzt er auf Verstärkung. Junge wohlgemerkt. Wie soll Essen in 18 Jahren aussehen? Wohin soll die Reise gehen? Und: Wenn Essen ein Tier wäre, welches wäre es? Fragen wie diese hat sich der OB zurecht gelegt, um dann in die 22. Rathausetage zu fahren, dahin, wo die Zukunft der Stadt auf ihn wartet, die junge Generation.
Rund 20 Querdenker, Schüler aller Schulformen, Studierende und Promovierende aller Fächergruppen und so genannte „Young Professionals“ aller Branchen und bis 35 Jahre, mit einem Herz für Essen, kreativen Ideen und hohem Interesse am Mitgestalten ihrer Stadt und Region. Solche jungen Leute haben sich dort zum Zukunftsworkshop einfunden, in dem sie der Stadtspitze und den Entscheidern der Stadt klar machen wollen, wie ihre Stadt in der Zukunft aussehen soll. Martin Heimberg und Kéan Koschany sind zwei von ihnen.
Doch bevor sie zu Wort kommen, sich einbringen können, hat erst einmal Paß das Wort – ein OB, der sich „schleichend enteignet“ fühlt. Nicht im Rathaus, sondern in seinen eigenen vier Wänden – als Vater von zwei Söhnen. „Als ich 18 wurde, war meine größter Wunsch, ein Auto zu besitzen“, erinnert sich das wohl älteste Semester im Raum. Bei seinen 23- und 25-jährigen Söhnen sei das anders; sie würden mobil sein wollen, ohne ein Auto besitzen zu müssen. Schließlich habe der Papa eins. Und der sei sowieso meistens unterwegs, da könne man es auch ohne Probleme benutzen. „Wo wir wieder bei der schleichenden Enteignung wären“, witzelt Paß. Martin Heimberg jedenfalls gefällt dieser Wandel.
Keine Abgase, keine Autos
Der 26-Jährige studiert Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Stadt- und Regionalentwicklung in Bochum, lebt in Rüttenscheid und hat kein Auto. „Ich bin der Meinung, es geht im Ruhrgebiet ohne. Doch es ist noch potenzial da, denn es gibt immer noch einige Punkte in Essen, die schlecht erreichbar sind“, beklagt er. Ihn reize die Vision, künftig in einer autofreien Stadt zu wohnen. Individualverkehr solle es weiter geben, jedoch ohne Abgase und Umwege.
Heimberg denkt in der Kleingruppe „Verkehr“ mit. „Ich find’s gut, dass man spinnen kann“, sagt der 26-Jährige. Ein gut ausgebautes öffentliches Nahverkehrsnetz mit fliegenden und leisen Transportkapseln, die über den Köpfen der Menschen von A nach B sausen – Ideen wie solche entwickelt er in seiner Gruppe mit. „Gut, vieles ist in so kurzer Zeit vielleicht nicht umsetzbar“, muss er zugeben. Doch die vorab vereinbarten Regeln des Zukunftsworkshop, „Jede Meinung zählt, jede Idee ist gut und raustwittern ist erlaubt“, lassen nun mal viel Kreativität zu. Spinnereien eben. Manche sind gar nicht so aberwitzig. Zum Beispiel überdachte „Fahrradschnellstrecken“ in allen Teilen der Stadt. Quasi als Ersatz für Straßen und Autobahnen. „Mir wär’ es wichtig, dass ich mir an allen großen Knotenpunkten der Stadt Fahrräder ausleihen kann“, so Heimberg. Ob kostenlos oder gegen eine kleine Gebühr, da müsste wohl der Stadtkämmerer etwas zu sagen – der aus der Zukunft wohl gemerkt.
Und obwohl das Jahr 2030 Heimbergs junger Kollegin Pia Schweers noch „unglaublich weit weg“ scheint – denn dann wäre sie 37 Jahre alt – ist sie sehr daran interessiert, das Leben in ihrer Stadt von morgen mitzugestalten. Sie bringt sich in der Kleingruppe „Bildung“ ein. „Unsere Vision war klar: Wir wollen ein Essen haben, das frei ist von Vorurteilen und Chancengleichheit bietet.“ So etwas wie ein Nord-/Süd-Gefälle, kulturell und sozial, solle es 2030 nicht mehr geben. Und so entsteht der Slogan „melting-Pott: Durch Vielfalt stark“. Alle sind sich einig, dass Essen so zu einer starken Stadt werden kann, auf die man stolz sein kann.
Gut kommen ebenfalls die Ideen der „Architektur“ Gruppe an. Essen könnte zu einer Stadt werden, die eine clevere Balance zwischen Moderne und dem Charme der Vergangenheit bietet. Eine gläserne und futuristische Innenstadt, frei von Beton, die Außenbezirken bebaut mit gemütlichen Landhäusern. Außerdem sind Grünflächen ganz wichtig. Jeder Bürger solle in der Zukunft einen Garten besitzen, in dem er entspannen und die Natur erleben könne. Die Idee, Jugendliche als erste Gruppe in den Strategieprozess einzubinden, findet Pia Schweers klasse. Und auch das Themenspektrum. „Es ist ein beeindruckend vielseitig – angefangen beim ,1. Bundesliga-Verein’ zum Beispiel, oder dem Thema ,betonfrei’, das viele beschäftigt.“
Die Kosten vor Augen
„Ich fühl’ mich mit 32 Jahren schon alt, da ich feststellen muss: hier sind Leute, die halb so alt sind wie ich und sie sind völlig unbefangen“, sagt Christian Walloth. Er beschäftigt sich als Doktorand an der Universität Duisburg-Essen normalerweise mit urbanen Systemen. „Und so habe ich bei jeder Überlegung gedacht, wie sie überhaupt zu finanzieren ist. Wie realistisch die Visionen am Ende sein mögen, wird man sehen.“ Er ist dennoch zuversichtlich, dass vielleicht die ein oder andere Idee 2030 Realität sein könnte.
Finanzierbarkeit und im Jahr 2030 einen ausgeglichenen Stadthaushalt zu haben, ist aber auch seinen Mitstreitern wichtig, etwa dem Schüler Kéan Koschany: „Ich will in der Zukunft in keiner Stadt leben, die nicht weiß, wie sie ihre Rechnungen begleichen soll.“ Bei „Essen.2030“ gehe um ihn, um seine Generation und die Generationen nach ihm. „Und es geht darum Leute wie mich in Essen zu halten und nach Essen zu holen“, sagt der 15-Jährige. In Essen studieren, kommt schon jetzt nicht für ihn in Frage. „Architektur oder Grafikdesign interessieren mich, doch die Uni in Essen ist nicht attraktiv für mich. Ich habe viel schlechtes über sie gehört“, erzählt der Schüler des Gymnasiums Werden.
Ob Essen es am Ende schafft, ihn und viele andere nach dem Studium zurück zu holen oder nicht, wird sich zeigen. Eines sei klar: „Es wird ein Wettbewerb um Menschen“, das weiß OB Paß schon heute.
Was es mit der Strategie „Essen.2030“ auf sich hat
Grundlage: „Essen ist eine lebens- und liebenswerte Stadt mit großen Potenzialen und Herausforderungen gleichermaßen“, so viel setzen die Strategen von „Essen.2030“ schon mal voraus. Vor dem Hintergrund knapper Kassen komme es künftig darauf an, lokale Möglichkeiten konsequent zu nutzen und Herausforderungen zu bewältigen. Wie das am besten zu bewerkstelligen ist, darum geht es im Strategieprozess „Essen.2030“.
Ziel: Die Stadt will gemeinsam mit der Stadtgesellschaft eine Zukunftsstrategie für Essen entwickeln, um Stärken zu stärken und Schwächen zu schwächen. Unter dem Leitsatz „Machen Sie mit! Tragen Sie dazu bei, dass Essen eine liebenswerte und starke Stadt bleibt, in der die Menschen gerne leben“, werden Bürger aus allen Stadtteilen eingebunden.
Ablauf: Die Projektergebnisse werden in sechs Modulen erarbeitet. Auf 300 Gutachten, 70 In-terviews und erwarteten Trends bauen Szenarien und Zielvisionen für „Essen.2030“ auf. Zentrales Element ist die Bürger- und Akteursbeteiligung. Dabei werden über unterschiedliche Formate Bürger, Fachbereiche der Verwaltung, Politik, Wirtschaft sowie gesellschaftlich relevante Akteure eingebunden und zum Mitwirken gebeten. Die Ergebnisse fließen in eine erste Grobstrategie ein, die ausgewählte Gruppen weiter ausarbeiten. Danach werden Anforderungen an Pilotprojekte definiert und ein Steuerungssystem entwickelt.
Mitmachen: Im September beginnt für alle Bürger und Akteure der Stadtgesellschaft die Chance, sich zu strategischen Handlungsfeldern für die Stadt der Zukunft einzubringen. Näheres dazu wird noch bekannt gegeben. Weitere Infos zu „Essen.2030“ gibt’s auf: www.essen.de