Essen. . An der Gummertstraße in Rüttenscheid sollen Häuser abgerissen werden, um neue bauen zu können. Die Bewohner erfuhren das aus der WAZ. Eine Analyse

Kleines Gedankenexperiment, liebe Leserin, lieber Leser: Stellen Sie sich vor, Sie schlagen die Zeitung auf und finden einen Bericht über eine Pressekonferenz, bei der ein neues Wohnbaugebiet vorgestellt wurde. Alles ist perfekt gemacht wie heute üblich mit einer Computer-Animation, auf der die neu zu bauenden Häuser schon eingezeichnet sind. Und dann stellen Sie fest: Hoppla, das ist ja meine Straße. Und da wo dieses eine nagelneue, schicke Wohngebäude steht, da ist mein Haus, in dem ich gerade zur Miete wohne. Genauer: Da war mein Haus, denn in der Computer-Animation, da ist es leider schon abgerissen...

Erfreut wären Sie da nicht, stimmt’s? Zumal wenn Sie nicht etwa in einem Abbruchgebiet leben, sondern in einer schmucken kleinen gepflegten Siedlung mit großen Gärten und wenn Sie mit Herzblut an ihrem Zuhause hängen.

Alle Register ziehen

Und erfreut waren eben auch nicht die Bewohner von zehn Reihenhäusern der Gummertstraße in Rüttenscheid, als sie jüngst mit exakt der oben genannten Szenerie konfrontiert wurden. Drei Investoren wollen unabhängig voneinander, jedoch auf Basis eines gemeinsamen Architektenentwurfs und eines gemeinsamen Bebauungsplans, in Rüttenscheid 140 Wohnungen bauen. Wohnungen, die der beliebte Stadtteil gut gebrauchen kann und die mit Sicherheit auch spielend schnell verkauft wären. Leider ist aber inzwischen mehr als zweifelhaft, ob sie - jedenfalls in dieser Anzahl - jemals entstehen werden. Denn die Mieter, die in den zuvor abzureißenden Häusern leben und die dort bleiben wollen, dürften jetzt alle Register ziehen, um die Pläne politisch und vielleicht auch juristisch zu vereiteln. Und man kann es ihnen nicht einmal verübeln.

Als Beobachter ist man fassungslos. Wie kann eine Planungsverwaltung im Jahr 2012 immer noch so dilettantisch und rabiat vorgehen? Es ist, als wollte jemand dieses Bauvorhaben von vorne herein gefährden. Jeder sollte doch spätestens seit Stuttgart 21 wissen, wie sensibel Bürger heutzutage reagieren, wenn sie das Gefühl haben, es werde über ihren Kopf entschieden. Und wenn es um das eigene Zuhause geht, gilt das erst recht.

Seltsame Kaltschnäuzigkeit

Natürlich: Formal haben Stadt und Grundeigentümer Immeo alles richtig gemacht. Das Bebauungsplanverfahren kommt ja demnächst erst in Gang, eine Bürgerbeteiligung ist dabei ausdrücklich vorgesehen. Doch ein Rückzug auf solche Formalia, auch das wissen wir seit Stuttgart, ist heute einfach nicht mehr ausreichend. Und auch die seltsame, aus der Zeit gefallene Kaltschnäuzigkeit, die die CDU in Rüttenscheid an den Tag legt, hilft keinen Meter weiter. Man kann Leuten heutzutage in einer bereits aufgeheizten Situation nicht mehr sagen, dass ihre Umsiedlung leider unvermeidlich ist.

Eine frühzeitige, offene Information alleine löst zwar keinen Interessenkonflikt, zumal ein echter Kompromiss im vorliegenden Fall schwer zu finden ist - abreißen kann man nun mal nur ganz oder gar nicht. Aber informieren kann immerhin jene ohnmächtige Wut verhindern, dieses Gefühl „Denen werd’ ich’s zeigen“, das schnell ins Irrationale umschlägt, das Änderungen dann vollends unmöglich macht. Und Änderungen, da hat die CDU nun wieder recht, müssen möglich sein, auch wenn die Reflexe wie fast immer erst einmal in Richtung Beharrung gehen.

Schon gescheitert

Denn Essen braucht kaum etwas dringender als neuen, großzügigen Wohnraum für jene potenziellen Neubürger, die in der Stadt zwar arbeiten, aber nicht hier leben, weil es wenig Passendes für sie gibt. Es gilt Jahrzehnte einer Wohnungsbaupolitik aufzuholen, die falsche Akzente setzte, die viel zu sehr auf Masse denn auf Klasse setzte. Wer in Essen gutes Geld verdient, lässt sich nun mal nicht mit dem Hinweis, in dieser oder jener Siebziger-Jahre-Siedlung sei es doch auch ganz schön, in Wohngegenden locken, die ihm nicht behagen. Das ist einfach illusionär, denn niemand muss in Essen wohnen. Anderswo ist auch schön, und - Hand aufs Herz - oft sogar schöner.

Es wird nicht einmal genügen, wie jetzt in Rüttenscheid, Flächen zusammenzuklauben, aus denen man dann hofft, etwas Neues machen zu können. Wer die „wachsende Stadt“ wirklich will, wer das weitere Schrumpfen Essens nicht als unabwendbares Schicksal hinnehmen bereit ist, der muss auch mal den großen Wurf wagen. Ohne eine Kommunikationsstrategie, die den instinktiven Hang zur Bewahrung des Althergebrachten auf der Rechnung hat, wird das alles allerdings niemals funktionieren. An der Gummertstraße ist das schon gescheitert, noch bevor das Baurecht überhaupt in Sichtweite kam.