Essen. 30 Schildkröten leben mit Nachwuchs im Garten von Karina Nickel-Hiedels. Sie nimmt die geschützten Tiere auch auf, wenn die Stadt sie beschlagnahmt. Die 54-Jährige ist Expertin für die Reptilien, manche der Tiere kennen ihre Stimme seit 30 Jahren.
Mit den ersten Sonnenstrahlen krabbelt Sir Henry (71) unter dem Lavendel hervor. Paul taucht aus dem hohen Gras auf. Mathilde und Hugo kommen aus dem Holzhaus. „Die Schildkröten laden in der Sonne ihren Akku auf“, erklärt Karina Nickel-Hiedels. Sie ist Expertin für die Reptilien, mit denen sie ihren Garten teilt. Tritt die 54-Jährige auf die Terrasse, kriechen ihre Bewohner gleich auf sie zu, denn ihre Stimme kennen manche von ihnen seit 30 Jahren.
Damals klingelten Kinder aus der Nachbarschaft, die eine Schildkröte gefunden hatten. Karina Nickel-Hiedels galt als tierlieb. „Die Schildkröte war aber sehr krank“, erzählt sie. Sie hatte zwar bereits zur Einschulung ihre erste Schildkröte bekommen, aber die überlebte den Winterschlaf nicht. Also las sie sich für den Findling Wissen aus Büchern an, pflegte und fütterte das Tier, das zum „Brötchen“ wurde, wie ihr Mann sie taufte. Der baut bis heute das, was seine Frau für die Schildkröten braucht: Holzhäuser oder Außengehege mit Schutz vor Raben oder Mardern.
Kapazität ist erreicht
Neben den Pflegetieren gehören heute 24 Schildkröten zur Familie. Und zwei erwachsene Söhne, von denen der jüngste sich aber bereits mit zehn Jahren für Schlangen als Haustiere entschied. Die Schildkröten seiner Mutter sind Griechische, Maurische, Russische oder Breitrandschildkröten. Die meisten wurden abgegeben. So landen Schildkröten, die die Stadt beschlagnahmt oder die sie für das Tierheim aufpäppelt, bei der Schönebeckerin, weil sich ihr Fachwissen herumspricht. Ihre Kapazität sei allerdings derzeit erreicht.
Hugo etwa zog mit stark beschädigtem Panzer ein, weil der mit falschem Antibiotikum behandelt worden war. Ein viel zu dickes Männchen kam mit plattem Panzer und kranken Augen. „Er saß im viel zu kleinem Terrarium, bekam zu viele Vitamine“, sagt die Fachfrau. Kühnwalda (60) hingegen war regelrecht asozial, biss alle Artgenossen, hackte ihrer Halterin in die Hacken, weil sie bis dahin 40 Jahre lang ohne jeglichen Kontakt im Schrebergarten lebte.
Die optimale Haltung beschreibt die Fachfrau: ein Männchen, fünf Weibchen. Bloß nicht allein. Auch nicht auf langweiligem, glatten Terrariumboden. Am liebsten leben Schildkröten draußen, brauchen Sonne, kriechen gern über Stock und Stein, knabbern Rosenblätter oder Gras. Täglich pflückt Karina Nickel-Hiedels Löwenzahn, Spitzwegerich, Klee und Hibiskus. Tomate, Erdbeere oder Apfel gibt es nur selten als Leckerchen. Sonst wird ihnen übel oder sie bekommen Durchfall.
Fünf Monate Winterschlaf
„Schildkröten brauchen weder zusätzliche Vitamine noch Politur für den Panzer“, sagt die 54-Jährige. Man muss sie auch nicht putzen. „In Griechenland rennt auch keiner mit der Badewanne hinterher“, sagt sie lachend. Die Häufchen aber sammelt sie täglich von der Wiese. Was die Tiere nicht mögen: hochgehoben werden. Sie seien zum Beobachten da, wenn sie majestätisch durch den Garten kriechen. Kraulen unter dem Kinn lassen sie sich aber gefallen und recken den Hals. Berührungen auf dem Panzer fühlen sie auch, sagt die 54-Jährige und streichelt ein Baby. Es sind Nachzuchten, die sie verkauft, um Haltung und Tierarztkosten zu finanzieren und die Arten zu erhalten.
Paaren sich die Schildkröten in Schönebeck, dann hören die Nachbarn sie piepen. Die Eier gräbt Karina Nickel-Hiedels aus der Erde und legt sie zum Ausbrüten bei 32 Grad Celsius ins Terrarium. Im ersten Jahr verdoppeln sich die Schildkröten, die ihr Leben lang weiterwachsen. Weil die älter als 100 werden können, sorgen viele Halter mit einem Folge-Platz vor, erzählt die Schönebeckerin, die das Hobby trotz der vielen Tiere und Pflegefälle nicht zu anstrengend findet. „Ich komme ja fünf Monate zur Ruhe.“ Dann ist Winterschlaf. Bereits im September läuft alles langsamer, die Schildkröten fressen nicht mehr. Die großen graben sich im Gewächshaus ein. Karina Nickel-Hiedels deckt sie mit Stroh ein und isoliert die Wände mit Styropor. Kleine Schildkröten legt sie in Plastikbehältern in den Kühlschrank, öffnet den regelmäßig. „Tollt eine rum, schaue ich nach“, sagt sie. Die meisten schlafen aber schnell – bis Februar oder März. „Dann brodelt die Erde wieder.“