Essen. . Die Zeiten für mehr Rücksichtnahme auf den christlichen Wertekanon stehen eher schlecht. Dennoch, findet Wolfgang Kintscher, Leiter der NRZ-Stadtredaktion Essen, dass wir mit Abschaffung eines stillen Feiertags mehr zu verlieren hätten, als ein, zwei Tage, an denen man offiziell nicht tanzen darf.
Dem Christentum, so könnte man ja sagen, ist schon Schlimmeres widerfahren, als dass sich die Stadt an tanzwütigen Jugendlichen abarbeiten müsste. Nur weil die ums Verrecken auch am Karfreitag nicht auf ihr Zappelvergnügen verzichten wollen. Und wenn in dieser Stadt am Sonntag zuvor zwischen Ikea und Kaufhof die Kassen geklingelt haben, bedeutet das gleich den Untergang des Abendlandes? Zumal es ja nur einer von insgesamt drei Dutzend verkaufsoffenen Sonntagen war, die in diesem Jahr den Einzelhandel zwischen Karnap und Kettwig stärken sollen. Selbst die Frage, ob der Weihnachtsmarkt im Spätherbst vor oder nach dem Totensonntag sein Pforten öffnet, spielt für die Gläubigen nicht die ganz große Geige.
Es ist nur so, dass auf diese Weise Abschnitt für Abschnitt die Leitplanken im Alltagsleben einer Stadtgesellschaft abgeschraubt werden, die das Zusammenleben über Jahrhunderte geprägt und vor allem seit der industriellen Revolution vor der Durchökonomisierung bewahrt haben. Die Erosion findet dabei an allen Ecken und Enden statt: Hüben sind es die Geschäftsleute, die um ihre Umsätze fürchten, drüben der hedonistische Nachwuchs einer Generation Facebook, die sich auch in einem Schaltjahr keinen einzigen Party-Tag nehmen lassen will. Den Kirchen selbst fehlt längst die Kraft, dagegenzuhalten – weil sie mit Skandalen in den eigenen Reihen, einem Aufbegehren der aktiven Anhänger und viel mehr noch dem lauen Zugehörigkeitsgefühl wohl der meisten Mitglieder zu kämpfen hat.
Durchökonomisierte Ruhe
Noch blendet die Statistik: Von den gut 570.000 Essener Einwohnern haben mehr als 218.000 die römisch-katholische und weitere 154.000 die evangelische Konfession, doch erstens sinkt der Anteil langsam aber stetig und zweitens braucht es nicht viel Phantasie nachzuvollziehen, dass bei Kirchenbesucher-Zahlen im einstelligen Prozentbereich viele nur noch zahlende Mitglieder sind – im weiten Spektrum zwischen zufriedener Kundschaft für religiöse „Folklore“ im eigenen Glaubensbaukasten und bloßer Faulheit, beim Amtsgericht den Austritt zu vollziehen.
Dass selbst bei einer erklärtermaßen christlichen Partei nur ein Ratsherr die Flut von verkaufsoffenen Sonntagen bremsen wollte, lässt einen vermuten, dass die Zeiten für mehr Rücksichtnahme auf den christlichen Wertekanon eher schlecht stehen. Wo aber heute der Sonntag geopfert und der stille zum schrillen Feiertag wird, wo Weihnachten nur noch aus Markt und Ostern nur noch aus Schokohasen besteht, muss sich niemand wundern, wenn bald Feierabend ist mit dem letzten Rest von Respekt und Rücksicht, auf die letzten Tage nicht durchökonomisierter Ruhe in einer hektischen Welt. Wir haben mehr zu verlieren, als ein, zwei Tage, an denen man offiziell nicht tanzen darf.