Essen. . Am Tod von fünf Babys wähnen sich die Kliniken Süd unschuldig. Doch in einem Fall floss Geld und ein Gutachter zählt Fehler auf. Denn die Eltern wollten sich nicht mit einem Achselzucken abfinden und forderten ein Gutachten an. Das zeigt auf, dass Ärztin und Hebamme das sogenannte CTG falsch interpretierten.

Vor gut vier Wochen hätte Tom seinen ersten Geburtstag gefeiert und vielleicht versucht, die eine Kerze auf seinem Schokokuchen auszupusten. Er würde durch die Dachgeschosswohnung der Weicholds in Gerschede krabbeln und wäre als pausbäckiger Wonneproppen auf dem besten Wege, seine ersten Laufschritte zu machen. So wie seine Cousine, die – was für ein Zufall – am gleichen Tag wie er das Licht der Welt erblickte.

Hätte, wäre, würde. Die Wahrheit ist: Wer Tom besuchen will, der muss einen schweren Gang antreten. Der führt auf den katholischen Friedhof von St. Antonius in Schönebeck, zu den Urnengräbern gleich links neben der Trauerhalle, wo sich eine weiße Piepmatz-Figur mit lila Schuhen und gelbem Hut auf dem Grabstein fläzt.

Der Sohn wurde nur 50 Tage alt

Tom Weichold wurde nur 50 Tage alt, und das war, wenn seine Eltern Annika (36) und Torsten (37) das noch richtig Erinnerung haben, „Schicksal“ – so hat man es ihnen jedenfalls in den Kliniken Süd in Werden erzählt: „So was passiert.“ Eine von 10.000 Geburten verlaufe so dramatisch wie an jenem 3. März des Jahres 2011, als der Kleine um 23:08 Uhr mit einem schweren hypoxischen Hirnschaden (also einer Mangelversorgung des Gewebes mit Sauerstoff) auf die Welt kam und sieben Wochen später verstarb. Dass neben Tom binnen neun Monaten auch vier andere Babys starben – womöglich eine Laune der Statistik. Schwerwiegende Behandlungsfehler wurden durch zwei ärztliche Gutachter der Klinik Aschaffenburg verneint.

Wehen wurden fehlinterpretiert

Doch die tieftraurigen Eltern mochten sich mit dem bedauernden Achselzucken nicht so einfach abfinden, „wir wollten Antworten“, sagt Annika Weichold, und die haben sie seit einer Woche schwarz auf weiß. Danach ist das so genannte CTG, das gleichzeitig die Herzschlagfrequenz des ungeborenen Kindes und die Wehen der werdenden Mutter aufzeichnet, „von der betreuenden Ärztin und Hebamme fehlinterpretiert“ worden: Der darauf folgende „tragische Verlauf ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine fehlerhafte Geburtsleitung in der Austreibungsphase zu sehen“.

So formuliert es Professor a.D. Dr. med. Dr. h.c. Hans Jürgen Künzig aus Wilnsdorf in einem Gutachten für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Nordrhein – und unterfüttert so den Verdacht, dass zumindest im Fall des kleinen Tom mehr Schlamperei als Schicksal über das kurze leidvolle Leben und den raschen Tod entschieden.

„Lächerliches“Schmerzensgeld

Dieser Eindruck muss auch auf Seiten der Zurich Versicherung vorgeherrscht haben, die über den von Weicholds eingeschalteten Rechtsanwalt Boris Meinecke bereits Anfang Dezember 2011 und damit lange vor dem Gutachten wissen ließ, sie wolle den „Schadens-Fall 625/11-320 992“ auf dem Vergleichswege regeln: Man sei bereit, „im Erledigungsinteresse“ die Beerdigungskosten voll zu übernehmen, den pflegerischen Mehrbedarf bis zu einer bestimmten Summe und dazu ein Schmerzensgeld für Toms Tod. Eines, zu dessen Höhe Annika und Torsten Weichold nur eins einfällt: „Lächerlich, wenn man bedenkt, dass da ein Mensch gestorben ist.“

Aber wie schreibt die Zurich da so treffend an Anwalt Meinecke? „Insbesondere war auch zu berücksichtigen die relativ kurze Überlebenszeit von Tom.“ Markus Meinecke aus der auf Patienten-Interessen im Medizinrecht spezialisierten Kölner Kanzlei Meinecke & Meinecke kennt solche Schreiben zur Genüge: Er kennt „das Tal der Tränen“, dass die Kläger durchschreiten und weiß, dass auch ein Prozess kaum weiter geführt hätte: Schuld ist jetzt niemand, denn wie hat die Zurich sicherheitshalber noch mal dazugeschrieben: „In der Zahlung wird kein Anerkenntnis einer Haftung gesehen.“

Von der Klinik kein Sterbenswörtchen

Gut jeder dritte Streitfall ums Medizinrecht endete vor Jahren noch mit einem Vergleich, doch die Zahl hat sich „deutlich verschoben“, so Anwalt Markus Meinecke, dessen Kölner Kanzlei über 2000 Fälle betreut: „Leider werden mittlerweile sehr viele Prozesse geführt“, die könnten sich schon mal über drei Instanzen und zehn Jahre hinziehen.

Im Falle der Weicholds, die über keine Rechtsschutzversicherung verfügen, stünde dann das eine Gutachten gegen das andere; als Patient oder Angehöriger müsse man schlicht Glück haben, auf Verständnis zu treffen. Und „beten und hoffen, dass der vom Gericht bestellte Gutachter den Mumm und die Traute hat, sich kritisch zu äußern“. Im Extremfall könne nämlich ein klarer Behandlungsfehler und eine eindeutige Schuldzuweisung gegen behandelnde Ärzte in ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung münden.

Eltern hatten nie Rachegelüste

Rachegelüste hatten die Weicholds nie, obwohl ihr Vertrauen in die ärztliche Kunst arg gelitten hat: „Noch im Krankenhaus habe ich gedacht: Das wird schon, die machen das doch jeden Tag“, sagt Annika Weichold, „das ist ja ,nur’ eine Geburt“. Sie haben die emotionale Achterbahnfahrt noch vor Augen, das Bangen um Tom, weil anfangs überhaupt nicht klar war, welchen Schaden sein Gehirn genommen hatte. Bis die Ärzte im Uni-Klinikum schwerste Beeinträchtigungen diagnostizierten und bedauerten: Ohne Apparatur wäre der Junge nicht lebensfähig.

Die Weicholds haben dann entschieden: „Wenn es so schlecht um ihn steht, soll er sterben dürfen.“ Es gab noch ein paar Tage Gelegenheit, Abschied zu nehmen, um Tom zu weinen und sein Händchen zu halten, bevor der kleine Mann am 21. April vergangenen Jahres sein Leben aushauchte.

"Diese Wut, die in mir ist"

Als es vollbracht war, teilten viele den Schmerz der Weicholds, es schrieb der Kinderarzt und sogar das Uniklinikum, das noch hatte retten wollen, was nicht mehr zu retten war. Nur von den Kliniken Essen Süd hörten die Eltern nichts, kein Sterbenswörtchen seit jenem Tag, an dem man ihnen in Werden das Schicksalhafte an Toms kurzem Leben erklärt hatte.

Und wenn sie daran denkt und in dem NRZ-Artikel vom 10. März liest, wie das Krankenhaus sich nach den fünf toten Babys binnen neun Monaten um die eigenen Leute gesorgt, sie mit psychologischen Ansprechpartnern zusammengebracht hat, dann empfindet Annika Weichold nur noch kalte Empörung. „Ihr Armen, ihr habt es verbockt“, würde sie dann gerne sagen und denen das Gutachten vor die Nase halten. Im ersten Moment hilft ihr das gegen „diese Wut, die in mir ist“, vom Schmerz ganz zu schweigen. Denn wie gesagt: Tom würde laufen, in diesen Tagen. Würde, hätte, wäre.